Wer ständig unter Druck steht, läuft Gefahr, ernsthaft zu erkranken. Helfen kann mehr Achtsamkeit

Stress macht sich häufig nicht sofort bemerkbar. Zumal eine gewisse Anspannung im Beruf und im Alltag durchaus positiv sein kann. „Zunächst habe ich nicht gemerkt, wie ich mich verändert habe. Doch mit der Zeit empfand ich meinen Job als zunehmend kräftezehrend und die Belastungen fingen an, mich auszuhöhlen“, berichtet Patrik Buchtien, langjähriger Manager einer Hamburger PR-Agentur. Ins Grübeln sei er immer mehr geraten, Disziplin habe Motivation ersetzt, Herausforderungen seien immer mehr zu scheinbar unüberwindbaren Problemen geworden und das früher stets „volle“ Glas habe sich immer mehr geleert. Therapeutischer Rat half ihm nicht und auch ein sechswöchiger Klinikaufenthalt brachte ihn nicht weiter. Die Stress-Dämonen waren immer noch da. Schlussendlich zog er die Reißleine – und hing seinen Job an den Nagel.

Die ständige Erreichbarkeit ist für viele Beschäftigte belastend

Stress bei der Arbeit, Stress zu Hause und in der Freizeit gehört heute schon fast zum guten Ton: Die meisten Menschen setzen die Anforderungen des Lebens unter Druck. Sechs von zehn Erwachsenen in Deutschland stehen unter Strom, fast jeder Vierte gibt an, häufig gestresst zu sein. Das geht aus der Stress-Studie der Techniker Krankenkasse (TK) hervor.

Wichtigster Stressfaktor ist danach der Job (46 Prozent). Fast die Hälfte der Berufstätigen fühlt sich abgearbeitet und verbraucht – vor allem Beschäftigte im höheren Alter. Auffällig ist aber, dass auch 37 Prozent der Beschäftigten unter 40 das Gefühl kennen. Weitere Stressfaktoren sind hohe Eigenansprüche (43 Prozent) und ständige digitale Erreichbarkeit (28 Prozent). „Die Digitalisierung, die Globalisierung und der Anspruch der Kunden haben unsere Arbeitswelt verändert. Den Beschäftigten wird deutlich mehr Flexibilität abverlangt. Wenn aber fast 30 Prozent von ihnen sagen, dass sie auch nach Feierabend und im Urlaub erreichbar sein müssen, dann läuft in der Betriebsorganisation etwas falsch“, sagt Dr. Jens Baas, Vorstandsvorsitzender der TK.

Patrik Buchtien hat sein Leben mittlerweile umgekrempelt. Er denkt anders, ernährt sich gesünder und macht viel Sport. „Ich passe jetzt besser auf mich auf und suche in allen Lebenslagen immer auch das Positive“, berichtet der 60-Jährige. Und er hat ein Unternehmen gegründet, in dem er seine eigenen Erfahrungen an Firmen und Beschäftigte weitergibt. Der Fokus von Stress Balancing Advisors (SBA), sogenannten Stressberatern, liegt auf der individuellen Vermittlung von Kompetenzen zur Stressvermeidung sowie zum Stressmanagement mit dem Ziel einer effektiven Selbstfürsorge und einer gesunden Balance.

Grundsätzlich ist Stress eine natürliche Reaktion des Körpers. „Negativer Stress entsteht, wenn sich Betroffene in ihrer Bewältigungskompetenz überfordert fühlen“, weiß Buchtien. Diese Form des Stresses dürfe nicht länger als acht Wochen anhalten. Gebe es danach keine Phase der Regeneration, würden sich meistens irgendwann körperliche und psychische Symptome einstellen, die langfristig zum Burnout führen können.

Davon betroffen seien meistens Menschen, die viel leisten wollen und Warnsignale ignorieren. Häufig fehle es bei den stressgeplagten Betroffenen aber auch an den nötigen Kompetenzen, um Stress zu vermeiden beziehungsweise zu bewältigen. Zwar wüssten viele nur allzu gut, was bei ihnen Stressreaktionen auslöst und ihre Situation verbessern würde.

Doch über das reine Verstehen würden noch lange keine Veränderungen auf den Weg gebracht. „Die Veränderung von falschen Denk- und Verhaltensroutinen, die häufig auf bereits in der Kindheit angelegten Stressverstärkern basieren, muss neurologisch erst angelegt werden. Es gilt, die Betroffenen aus ihrer Komfortzone herauszuführen, innere Abwehrhaltungen zu überwinden und auf Basis innerer Erfahrungen die notwendigen Veränderungen auf den Weg zu bringen“, erläutert Buchtien. Ruhe und Abschalten seien zwar gut, um die zuvor getrübte Wahrnehmung zu verändern. Wichtig sei jedoch vor allem, die konkreten Stressauslöser zu identifizieren und herauszufinden, woher die ungesunde Reaktion kommt. Beispiel: Menschen, denen man in ihrer Jugend eingeimpft hat, perfekt sein zu müssen, wenden oft zu viel Energie auf, um in allen Lebenslagen perfekt zu sein. Und Kontrollfreaks haben bei der Führung vielfach Probleme mit dem Delegieren. Im ersten Schritt erstellt Buchtien mit dem Klienten ein individuelles Stressprofil, das die Analyse der aktuellen Stressbelastung, des individuellen Stressverhaltens sowie der Ursachen umfasst. Danach zielt seine Balancing-Methode darauf ab, Veränderungen des Denkens und Handelns durch Vermittlung von Kompetenzen in den Bereichen instrumentelles, mentales und regeneratives Stressmanagement anzubahnen und durch Übungen und begleitete Praxistests zu verankern. Menschen, die zum Beispiel nie „Nein“ sagen können, führt Buchtien zunächst an Alltagssituationen heran, in denen sie sich selbst überwinden und „Nein“ sagen müssen. Nach diesen Erfahrungen fällt es ihnen meistens leichter, auch im Job Prioritäten zu setzen.

Nachholbedarfin vielen Firmen

Beim instrumentellen Stressmanagement geht es auch darum, das Zeit- und Selbstmanagement zu verbessern. Das regenerative Stressmanagement zielt darauf ab, das Regenerationsverhalten zu verbessern. Und im Rahmen des strukturellen Stressmanagements werden die potenziell stressauslösenden Rahmen- und Arbeitsbedingungen innerhalb von Unternehmen analysiert und optimiert. „Da besteht teilweise viel Nachholbedarf“, sagt Buchtien, für den das Glas inzwischen immer mindestens halb voll statt halb leer ist.