Marseille, vom Licht der Côte d’Azur umschmeichelt, war schon immer ein Schmelztiegel der Kulturen. Der bunte, laute Mix zieht heute viele Touristen an

P

artnerstädte sollten schon etwas gemeinsam haben. Bei Marseille und Hamburg muss man da gar nicht lange suchen, beide werden entscheidend durch ihre Häfen geprägt. Dass diese Metropolen im Jahr 1958 Partner geworden sind, wundert also nicht – wenn man in der Geschichte einige Jahre zurückgeht, allerdings schon. Der Hansestadt öffnete die Schifffahrt das „Tor zur Welt“. Aber auch Marseille, zweitgrößte Stadt des Landes mit dem Spitznamen „la deu­xieme ville“ (die zweite Stadt – nach Paris), macht es als „Tor zum Mittelmeer“ nur ein bisschen kleiner.

Wenn man nach Marseille kommt, kann man sich seiner optischen Dramaturgie kaum erwehren. Das helle, rötlich-beigefarbene Häusermeer, das sich bis zum Wasser hin erstreckt, lässt keine Zweifel daran aufkommen, dass man an der Côte d’Azur mit ihren wunderschönen Lichtverhältnissen angekommen ist. „Man versteht nichts von dieser Stadt, wenn man keine Empfindung für ihr Licht hat. Es ist wie mit Händen zu greifen, selbst in den Stunden, in denen es glühend heiß ist“, hat der französische Krimiautor Jean-Claude Izzo geschrieben. In seiner ebenso spannenden wie sozialkritischen „Marseille-Trilogie“ hat er nicht nur dem Polizisten Fabio Montale, sondern auch der Stadt ein literarisches Denkmal gesetzt. Izzos Trilogie war schon die zweite, in der die Stadt und ihre Bürger im Mittelpunkt standen. Die erste stammt von Marcel Pagnol, dessen Dramen „Fanny“, „Marius“ und „César“ in den 30er-Jahren in populäre Filme umgesetzt wurden.

Marseille ist bunt, laut und temperamentvoll

Immer mehr Menschen wollen das schöne Licht selbst erblicken und machen sich auf den Weg. Man kann dieses Ziel mit dem Schnellzug TGV in drei Stunden aus Paris oder in sechs Stunden aus London erreichen. Das war vor 2600 Jahren, als die Römer hier anlandeten und den Flecken Massalia nannten, noch ein wenig anders. Seitdem haben immer wieder fremde Völker die Stadt besucht und Gefallen an ihr gefunden. Perser, Römer, Westgoten, Russen, Armenier, Vietnamesen, Korsen, Spanier und Nordafrikaner haben ihre Spuren hinterlassen. Kein Wunder, dass man auch heute noch ein Vielvölkergemisch in den Straßen findet. Besonders zu empfehlen sind die Wochenmärkte der Stadt, die einen Eindruck von dieser Vielfältigkeit vermitteln.

Marseille ist nicht unbedingt eine feine Stadt, aber sie ist bunt laut und temperamentvoll. Die Müllabfuhr kommt in manchen Vierteln täglich und schon mal erst nach 22 Uhr. Und es ist hier oft windig. Der berühmt-berüchtigte Mistral weht häufig stark aus nordwestlicher Richtung. Zentraler Anziehungspunkt und eine der größten Attraktionen ist der Vieux Port, der alte Hafen, mitten in der Stadt. Hier liegen teure Yachten, hier landen Fischer ihren Fang von ihren Kuttern aus am Quai des Belges an. Wer früh genug kommt, kann Momente erleben, in denen die Stadt hier ganz bei sich ist. Andererseits findet man dagegen dort auch jede Menge Tand, den höchstens Touristen für originell halten könnten.

Vom Quai des Belges starten auch die Fähren zur kleinen Insel Château d’If. Dort befindet sich ein Gefängnis, das bereits im 16. Jahrhundert erbaut wurde. Der berühmteste „Gefangene“ dort ist allerdings nur eine literarische Fiktion. Der Graf von Monte Christo aus Alexandre Dumas’ gleichnamigen Roman hat nicht gelebt, wirkt aber dennoch als Attraktion.

Vom Hafen führt einige steile Treppenstufen hinauf der Weg zum Straßenzug Cours Julien. Das Viertel um ihn herum ist zum Teil verkehrsberuhigt. Hier findet man viele Bars und Boutiquen, zum Teil ziemlich originelle Graffiti zieren die Häuserwände, es ist ein unter jungen Besuchern und Künstlern angesagter Teil der Stadt.

Sportfans könnten vielleicht noch einen Abstecher zum Stade Vélodrome (demnächst: Orange Vélodrome) machen, der Spielstätte von Olympique Marseille. Die gut 67.000 Zuschauer fassende Arena beherbergt den neunfachen französischen Meister und Champions-League-Gewinner von 1993. Allerdings haben deutsche Fußballfans vielleicht schlechte Erinnerungen an das Stadion, denn hier war bei der Fußball-Europameisterschaft 2016 für das deutsche Team nach einem 0:2 im Halbfinale gegen Frankreich Endstation im Turnier. Marseille ist eine alte und zugleich sehr junge Stadt, deren Ruf weit über die Grenzen Europas hinausgeht. Das Serienportal Netflix wurde kürzlich von der EU ermahnt, die Zuschauer nicht nur mit US-Produktionen wie der Erfolgsserie „House of Cards“ zu locken. Also hat der Sender eine erste europäische Serie auf den Markt gebracht. In „Marseille“ spielt Gérard Depardieu den langjährigen Bürgermeister der Stadt, der zwar kokst, aber ansonsten ein Leuchtturm im Kampf gegen das Böse ist. Trotz des Stars in der Hauptrolle, der dafür zur Abwechslung mal wieder gute Kritiken bekam, ließen die Franzosen selbst kein gutes Haar an der Serie, der sie eine „Armut des Drehbuchs“, „unverdauliche Dialoge“ und eine „bleischwere Inszenierung“ vorwarfen.

Depardieus Vorbild im realen Leben heißt Jean-Claude Gaudin und regiert die Stadt mit rund 860.000 Einwohnern seit erstaunlichen 22 Jahren. Er soll sich über die Werbung durch die Serie gefreut, an der Darstellung der politischen Sitten darin allerdings wenig Gefallen gefunden haben. 2013 begrüßte Gaudin seinen Hamburger Kollegen Olaf Scholz, der die damalige europäische Kulturhauptstadt besuchte und Parallelen zwischen den baulichen Entwicklungen von Stadtteilen wie den Docks von la Joliette und der HafenCity zog. 2018 soll das 60-jährige Bestehen der Städtepartnerschaft mit einem großen Programm gefeiert werden.

Eine der Spezialitäten ist der Fischeintopf Bouillabaisse

Dass beide Städte mittlerweile wieder so freundlich miteinander umgehen, ist alles andere als selbstverständlich. Marseille fungierte während des Zweiten Weltkriegs als Drehscheibe für Menschen, die sich vor den Nazis in Sicherheit bringen wollten. Lion Feuchtwanger und Walter Benjamin gehörten zu ihnen. Das Warten auf das erlösende Visum hat Anna Seghers in ihrem Roman „Transit“ eindringlich beschrieben. 1943 hatten die Deutschen auch Marseille besetzt. Der Angriff einer Widerstandskämpferin auf Deutsche während einer Neujahrsfeier diente den Besatzern als Vorwand, um eine Razzia zu starten, die unter dem Namen „Operation Sultan“ ablief. Aus dem Korbmacherviertel Le Panier wurden zunächst 20.000 Menschen in die Nähe von Cannes gebracht. 800 Menschen wurden dann verhaftet und deportiert. Danach sprengten die Deutschen das 40 Hektar große Gebiet. Dass nach Kriegsende dort moderne Apartmenthäuser gebaut werden konnten, steht auf einem anderen Blatt.

Wer Marseille sagt, denkt schnell auch an die französische Nationalhymne, die „Marseillaise“. Das Lied mit der eingängigen Melodie und dem blutrünstigen Text („Diese wilden Soldaten brüllen? Sie kommen bis in eure Arme, um euren Söhnen, euren Gefährtinnen die Kehlen durchzuschneiden“) hat seinen Namen nicht etwa nach der Stadt erhalten, in der es geschrieben wurde – das war 1792 in Straßburg. Der Titel erinnert an französische Soldaten aus Marseille, die es sangen, als sie in Paris einzogen. Die Marseillaise ist ein Phänomen, populär und umstritten. Der ehemalige Präsident Sarkozy forderte, jedes Kind solle den Text auswendig kennen. Von dem gibt es mehrere Versionen: einen für Pazifisten, einen für die Bewohner der ehemaligen Kolonien und einen von Serge Gainsbourg, mit dem er Rechtsextreme provozierte. In jüngster Zeit hörte man die Marseillaise nicht nur bei offiziellen staatstragenden Anlässen, sondern auch in der Folge der Terroranschläge in Paris und Nizza beim Fußballfreundschaftsspiel England gegen Frankreich im Wembley-Stadion, von französischen Imamen gesungen vor dem Anschlagsort, der Konzerthalle Bataclan, und beim Scorpions-Konzert in Paris.

Eine der zahlreichen kulinarischen Spezialitäten der Stadt, in der man viele mediterrane Speisen und Getränke genießen kann, ist die Bouillabaisse. Von der charakteristischen Suppe gibt es so unendlich viele Rezepte wie vom Pesto aus der italienischen Hafenstadt Genua – nur Fisch ist immer dabei. Als Asterix und Obelix bei ihrer Spezialitätenjagd in „Tour de France“ in Marseille – damals hieß die Stadt Massilia – Station machen, lassen sie sich eine große Portion von dem provenzalischen Eintopf einpacken. Zum Mitnehmen – „à emporter“, „to go“ würde kein Franzose mit Stolz auf die eigene Sprache sagen. Die beiden Gallier reisen undercover durch Frankreich, sie wollen sich nicht in die Karten gucken lassen. Wer das doch will und dabei vielleicht sogar dem Schicksal über die Schulter schauen möchte, kann zu Spielkarten greifen, mit denen sich ein Orakel-Spiel aufziehen lässt. Das „Tarot de Marseille“ zählt zu den bedeutendsten seiner Art und geht wahrscheinlich auf einen Kartensatz aus dem 16. Jahrhundert zurück. Man kann damit in die Zukunft sehen – wenn man daran glaubt.

So wie Jean-Claude Izzo, der in seiner Hommage an seine Heimatstadt geschrieben hat: „Ich glaube an das, was ich auf den Straßen von Marseille gelernt habe und was mir auf der Haut klebt: die Aufnahme, die Toleranz, die Respektierung des anderen, die unverbrüchliche Freundschaft und Treue, dieser wesentliche Bestandteil der Liebe … Ich liebe es zu glauben – denn so bin ich erzogen worden –, dass Marseille, dass meine Stadt kein Selbstzweck ist. Sondern nur eine offene Tür. Offen für die Welt, für die anderen. Eine Tür, die offen bleiben wird, für immer.“