Der Verein Irre menschlich klärt Schüler, Polizisten und Pflegekräfte über mentale Störungen auf und will damit Vorurteile abbauen.

Wenn Wibke Schuster erzählt, wie sie sich schon als Kind die kleinen Hautfetzen an den Fingern abgerissen und daran geknibbelt hat, bis es geblutet hat oder ihre Nase an Margarine gehalten hat, bis ihr übel wurde, dann fummelt die 45-Jährige dabei immer mal wieder an ihren Fingern oder zupft an ihrem rosa Halstuch. Vielleicht ist sie ein wenig nervös, vor 17 und 18 Jahre alten Schülern des Profilkurses Psychologie am Gymnasium Dörpsweg in Eidelstedt von ihrer Störung zu reden. Sie macht es dennoch und sie macht es gern, „weil es wichtig ist, Vorurteile über psychisch Kranke auszuräumen“, sagt sie.

Denn das ist das Ziel des Vereins „Irre menschlich“. Ein Verein von rund 40 Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und Therapeuten. Sie gehen in Schulen, Gefängnisse und in die Hamburger Polizeischule, tauschen sich dort mit Schülern, angehenden Polizisten, Pastoren oder Menschen aus Pflegeberufen aus und bieten ihnen eine „trialogische“ Begegnung. Trialog meint den Austausch zwischen Betroffenen, Angehörigen und Therapeuten auf Augenhöhe mit Interessierten. Warum? Um für mehr Toleranz zu werben im Umgang mit Menschen, die eine psychische Erkrankung haben. Mindestens 100 solcher Begegnungen finden jedes Jahr statt.

So wie in dieser Doppelstunde am frühen Morgen. Wibke Schuster sitzt mit den Schülern und Lehrerin Rebecca Ehmcke im Stuhlkreis und erzählt von ihrer Borderline-Störung und der Diagnose vor sieben Jahren, von ihrer Magersucht und immer wiederkehrenden depressiven Episoden. Sie erzählt davon, wie schwierig es für ihre damals zehn und zwölf Jahre alten Söhne war, zu sehen, wie schlecht es ihrer Mutter ging. „Ich rede von Störung, nicht von Krankheit“, sagt Wibke Schuster gleich zu Beginn, „denn ich habe auch viele gesunde Anteile.“ Sie berichtet, wie sie da „hineingeschlittert“ ist und bereits als Kind mit selbstzerstörerischem Verhalten begonnen hat. Das ganze Desaster, wie sie es nennt, hat mit frühesten Traumatisierungen zu tun. „Ich habe mich schon als Kind gehasst“, sagt sie.

Psychische Erkrankungen können jeden treffen

Ein Satz, der schwer ist wie Blei und der in diesem Klassenraum doch weniger heftig wirkt. Das liegt auch daran, dass Frau Schuster offen und frei redet. „Ich kann auch lustig sein“, sagt sie später. Sie schafft es, Berührungsängste abzubauen. „Es ist mir wichtig, gegen Stigmatisierung von psychisch Erkrankten anzugehen.“ Denn: „Die Störung ist ja nur eine Facette von Wibke und macht nicht den ganzen Menschen aus“, sagt Maren Kraffczyk-Papenthien, die neben Frau Schuster im Stuhlkreis sitzt. Kraffczyk-Papenthien ist Kinderkrankenschwester und arbeitet am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) mit psychisch kranken Kindern und Jugendlichen. Sie ist an diesem Vormittag die Expertin in der Runde.

Denn Wibke Schuster ist nicht allein hier. Sie sitzt zwischen Frau Kraffczyk-Papenthien und Regina Linsig. „Wir kommen immer zu dritt“, sagt Linsig. Sie ist Mitbegründerin des Vereins. Bei jedem Termin ist eine medizinische Fachkraft wie Frau Kraffczyk-Papen­thien dabei, eine psychisch Erkrankte und ein Angehöriger eines Erkrankten. Sie machen das auch, weil psychische Erkrankungen häufiger vorkommen als angenommen. Sie können jeden treffen.

„In den Diskussionen geht es auch um Voraussetzungen, um seelisch gesund zu bleiben – indirekt immer um Sensibilität sich selbst gegenüber und Toleranz zu anderen. Aus meiner Sicht Grundvoraussetzungen von Prävention“, sagt Thomas Bock, Leiter der Spezialambulanz für Psychosen und Bipolare Störung am UKE.

Regina Linsig erzählt von ihrem schizophrenen Sohn

Seit fast 20 Jahren geht Regina Linsig in die Schulen. „Je jünger die Menschen sind, desto leichter ist es, Vorurteile abzubauen.“ Die frühere Biologie- und Sportlehrerin hat einen psychisch erkrankten Sohn. Bei dem inzwischen 35-Jährigen wurde vor 17 Jahren eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. An den Tag, der alles veränderte, erinnert sie sich noch genau: „Ich habe ihn von der Berufsschule abgeholt und er sagte mir: ,Da war gar keine Schule, die haben mich beobachtet. Die wollen mich ruhigstellen.‘“

Ihr Sohn leidet unter Verfolgungswahn. Die Realität ist für ihn lediglich eine Scheinwelt. „Er hat den normalen Menschen nur gespielt und kann erwünschtes Verhalten simulieren“, sagt seine Mutter. Er ist medikamentös eingestellt, arbeitet in einer Behindertenwerkstatt. Seine Mutter weiß: „Gesund wird er nie wieder.“ Aber man könne sich gut mit ihm unterhalten. „Von meinen drei Kindern scheint er manchmal das intelligenteste“, sagt Frau Linsig. Die beiden Töchter arbeiten in akademischen Berufen.

Hemmschwellen abzubauen, darum geht es an diesem Morgen. Wie kam es zu der Krankheit? Sind Medikamente die Lösung? Wie war es beim ersten Mal, sich selbst zu verletzen? Das wollen die Schüler wissen. „Bei meinem Sohn ist es vielleicht angeboren und möglicherweise vererbt. Es kann aber auch daran liegen, dass er in der Schwangerschaft unter Sauerstoffmangel litt. Vielleicht habe ich als Mutter zu viel Leistungsdruck ausgeübt? Ich könnte mir extreme Vorwürfe machen, aber das würde nichts ändern“, sagt Regina Linsig. Während bei ihrem Sohn Medikamente helfen, nimmt Wibke Schuster keine. „Ich habe sie wieder abgesetzt. Ich habe Menschen, mit denen ich rede, das hilft mir.“ Und ihr selbstverletzendes Verhalten sei wie ein Impuls. „Aber das ist nicht zu empfehlen, der äußere Schmerz hilft nur kurzfristig über den inneren“, sagt sie. Wenn sie diesen Impuls verspürt, drückt sie auf einen stacheligen Ball oder fingert an einem Holzteil mit Noppen herum, beides gibt sie den Schülern zum Anfassen.

Nach eineinhalb Stunden ist der Besuch zu Ende. Zwei Schüler haben von eigenen Störungen erzählt. „Das ist großartig, dass sie sich getraut haben, sich zu öffnen“, sagt Wibke Schuster. Und auch Wibke Schuster hat sich getraut und psychischen Erkrankungen ein menschliches Bild gegeben.

Irre Menschlich e. V., Martinistraße 52, Tel. 741 05 92 59. www.irremenschlich.de