Herne.

Schockierendes Geständnis im Mordfall Jaden: Aus Verzweiflung über eine Absage der Bundeswehr, den drohenden Verlust des Internetanschlusses und einen gescheiterten Suizid soll der 19-jährige Marcel H. aus Herne zwei Menschen umgebracht haben. Dies schilderte der geständige Täter gegenüber der Polizei, sagte der Leiter der zuständigen Mordkommission, Klaus-Peter Lipphaus. Wenn Marcel H. die Wahrheit sagt, sind die Motive des Verbrechens völlig bizarr.

Die Rekonstruktion der vergangenen Tage bringt verstörende Einzelheiten ans Licht. Kurz nach 20 Uhr ist es am Donnerstag, da kommt ein junger Mann in den „Thessaloniki-Grill“ in Herne spaziert. Ganz in schwarz, mit einem Regenschirm und – warum auch immer – mit einem Sack Zwiebeln in der Hand. Aber er bestellt keine Portion Gyros, er wünscht ein Telefon. „Bitte ruf die Polizei. Ich bin Marcel“, sagt er ruhig zu Imbissinhaber Georgios Chaitidis. Der Grieche stutzt. Er habe den jungen Mann nicht erkannt, sagt er später, denn: „Er hatte ja keine Brille auf.“ Erst nach einem Blick mit seinem Tablet ins Internet habe er gewusst, wer da plötzlich vor ihm stehe. Marcel H., den die Polizei überall in Deutschland wegen Mordes an einem neunjährigen Jungen sucht.

Seine Frau habe dann den Notruf gewählt, H. den Hörer gegeben. Fünf Minuten später stürmen die ersten Beamten in den Grill. Und eine der größten bundesweiten Fahndungsaktionen der letzten Jahre endet nur ein paar Kilometer von dem Ort entfernt, wo sie am Montag begonnen hat. Ohne Widerstand lässt sich der Gesuchte festnehmen. Und umfassend gesteht er in ersten Vernehmungen noch in der Nacht, was Polizei und Staatsanwaltschaft ihm vorwerfen. Sie müssen ihn nicht mal lange bitten, er plaudert wie ein Wasserfall. „Emotionslos“ und „eiskalt“, nennt ihn Klaus-Peter Lipphaus, Leiter der Mordkommission. Von Reue keine Spur „Er diktiert den Kollegen“, beschreibt er die Vernehmungssituation.

Eigentlich, erzählt H. den Beamten, sei er am vergangenen Montag nur noch einmal in das alte Haus seiner Familie gekommen, um sich umzubringen. Weil es in seinem neuen Zuhause kein vernünftiges Internet gebe. Und dann sei auch noch seine Bewerbung für die Bundeswehr, zu der er unbedingt möchte, abgelehnt worden. Vergeblich versucht er, sich zu erhängen. Als anschließend auch der Versuch scheitert, sich mit Kohlenmonoxid zu vergiften, beschließt er, jemanden zu ermorden. Irgendwen. H. schellt am Nachbarhaus. Wer auch immer ihm die Tür aufmacht, so sein Plan, der muss dran glauben. Es öffnet der neunjährige Jaden. H. bittet um Hilfe beim Aufstellen einer Leiter, lockt den ahnungslosen Jungen in den Keller und sticht dort plötzlich mit einem großen Messer 52 Mal auf das Kind ein. Dann fotografiert er die blutüberströmte Leiche, stellt die Fotos ins Internet und flüchtet in ein nahegelegenes Waldstück. Als die Polizei kommt, setzt er sich in die Stadt ab.

Er bittet sein späteresOpfer um einen Schlafplatz

Dort wohnt ein 22-jähriger Bekannter, der mit ihm auf das Berufskolleg gegangen ist. H. bittet um eine Schlafgelegenheit „für ein paar Tage“, der Bekannte willigt ein, bis in die Nacht spielen die beiden Videospiele. Als sein Gastgeber allerdings am nächsten Morgen ins Internet geht, sieht er, dass H. gesucht wird und kündigt an, zur Polizei zu gehen. „Das war sein Todesurteil“, sagt Lipphaus. Wieder greift H. zum Messer. 68 Einstiche zählt der Pathologe später bei der Obduktion. Würgemale am Hals gibt es auch. „So etwas“, sagt der Kripobeamte, „nennen wir Übertötung.“ Erklären kann Lipphaus es nicht. „Das ist Sache eines Psychiaters.“

Wieder macht H. Fotos, die im Netz landen. Im Übrigen, sagt er bei seiner Vernehmung, habe er die Wohnung in den kommenden drei Tagen nicht einmal verlassen. Dem griechischen Imbissbetreiber dagegen hatte er noch erzählt, er sei öfter am Herner Bahnhof gewesen, ohne erkannt zu werden. Was stimmt? „Werden wir prüfen“, sagt Lipphaus. Genau wie die Frage, wer was wann ins Internet geladen hat. Viele falsche Spuren seien dabei gewesen, sagt der Beamte. Das habe die Fahndung enorm erschwert.

Dafür, dass sie H. zum Zeitpunkt der Pressekonferenz in Dortmund nicht einmal 24 Stunden in Haft hat, weiß die Polizei am Freitagnachmittag schon viel. „Aber“, gibt Lipphaus zu, „es bleiben noch zahlreiche Fragen offen.“ Zum Beispiel die, warum der mutmaßliche Mörder sich gestellt hat, obwohl es offenbar keine konkreten Hinweise auf seinen Aufenthaltsort gab. Oder warum er alles gesteht, zuvor aber noch die Wohnung seines zweiten Opfers in Brand setzte, „um Spuren zu verwischen“. Vor allem aber, wie es um seine Schuldfähigkeit steht. „Die Ermittlungen sind noch lange nicht abgeschlossen.“

Erst einmal aber ist Lipphaus froh, dass sie ihn haben. So wie alle seine Kollegen. „Wir haben“, sagt der erfahrene Kriminalbeamte, „schon viel Elend miterleben müssen. Aber dieser Mordfall geht unter die Haut.“

In der Ruhrgebietsstadt Herne hoffen sie unterdessen, dass endlich wieder Ruhe einkehrt. Oberbürgermeister Frank Dudda (SPD) fasst die Stimmung so zusammen: „Der Albtraum hat ein Ende.“