Berlin.

Es gibt sie mit süßem Kirschgeschmack, mit Cola oder Vanille, in hübschen Tiegeln oder als Stift, dunkelblau und schlicht für den Mann, pink mit Glitzer für die Frau – Lippenpflege ist allgegenwärtig. Wer sie regelmäßig benutzt, schluckt davon pro Jahr etwa 20 Gramm, wie Experten der EU-Kommission errechnet haben – das sind ungefähr vier Fettstifte. Obwohl sie also ebenso in Verbraucher-Mägen landen wie Lebensmittel, gelten für die Kosmetik-Produkte andere Regeln, zum Beispiel beim Thema Schadstoffe. Die Verwendung von Mineralölen ist explizit erlaubt, obwohl Bestandteile des Stoffs als gesundheitlich bedenklich gelten.

Stiftung Warentest hat für die aktuelle Ausgabe des Test-Magazins über 30 Lippenpflege-Produkte untersucht. Sie rät von 15 explizit ab, darunter die Marken Labello, Bebe und Blistex.

Mineralöl ist ein Liebling der Kosmetik-Branche. Der Stoff ist im Vergleich zu anderen Inhaltsstoffen billig, lässt sich wunderbar verarbeiten, macht Produkte in seiner finalen Form wahlweise weich, geschmeidig oder antistatisch. Er schützt und pflegt die Haut, schwärmt der Industrieverband Körperpflege- und Waschmittel (IKW) in einer Stellungnahme zur Verteidigung des Stoffes von 2015. Der Alleskönner steckt in Cremes, Lotionen, Deo, Sonnenmilch, in Haargel, Vaseline oder Baby-Öl und macht darin bis zu 99 Prozent aus. Dass seine Bestandteile, die gesättigten (Mosh) und aromatischen (Moah) Kohlenwasserstoffe, zumindest besondere Aufmerksamkeit verdienen, war der Industrie offenbar schon klar, als die Diskussion um die Schadstoffe noch nicht öffentlich geführt wurde. Bereits 2004 gab der europäische Dachverband eine Empfehlung heraus, nach der heute als kritisch geltende Mosh in Lippenpflegeprodukten nicht mehr als fünf Prozent ausmachen sollten.

Kinderprodukte mit sehr hohem Mineralölgehalt

Landen Mosh im Körper, wie bei abgeleckter Lippenpflege möglich, können sie in einigen Organen gespeichert werden. Die Ablagerungen führten im Tierversuch zu Knötchen in Leber und Lymphknoten, aus denen chronische Entzündungen entstehen können. Moah bewertete die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) bereits 2012 als potenziell erbgutverändernd und krebserregend. Allein über Lebensmittel nimmt der Mensch pro Tag im Schnitt bis zu 0,3 Milligramm Mosh und bis zu 0,06 Milligramm Moah auf. Kosmetikprodukte kommen in diesen Berechnungen nicht vor.

„In Lebensmitteln sind Moah und Mosh unerwünscht, schon die jetzige Aufnahme durch Lebensmittel gilt als kritisch“, sagt Kerstin Etzenbach-Effers, Kosmetik-Expertin der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen, „dabei sind die Konzentrationen der Mineralölbestandteile in Kosmetika oft noch deutlich höher als in Lebensmitteln“. Die Ergebnisse der Warentester bestätigen das. „Wer zum Beispiel regelmäßig den von uns geprüften Bebe-Stift verwendet, schluckt neun Gramm kritische Mosh pro Jahr“, sagt Lea Lukas von der Stiftung Warentest. Der Gehalt an Mosh betrug laut Testergebnis im Bebe-Young-Care-Classic-Stift 47 Prozent, plus 0,13 Prozent Moah. Der Klassiker von Labello lag bei 14 Prozent Mosh und 0,21 Prozent Moah. Besondere Kritik ernteten Lippenpflegestifte der Marken Chupa Chups, Pepsi oder Minions, die sich mit ihrer Aufmachung und fruchtigem Geschmack besonders an Kinder wendeten und zum Ablecken prädestiniert seien. Alle enthielten hohe Mosh-Gehalte, Pepsi 69 Prozent.

Trotz solcher Ergebnisse werde bei Kosmetika wie Lippenpflege, die potenziell verschluckt werden könnten, aber auch Handcremes, die durch die Hände öfter mit dem Mund in Berührung kämen, nicht die gleiche Vorsicht an den Tag gelegt wie bei Lebensmitteln, kritisiert Kerstin Etzenbach-Effers. Laut Kosmetikverordnung ist Mineralöl in kosmetischen Mitteln nur zulässig, wenn der Ausgangsstoff frei von krebserregenden Substanzen ist oder das Produkt eingehend auf krebserregende Eigenschaften geprüft wurde. „Zumindest für Moah lässt sich ein Krebsrisiko aber nicht ausschließen – selbst wenn die Hersteller sich bemühen, die Gehalte in ihren Produkten zu reduzieren“, sagt Lea Lukas. Einer der Gründe: Die Moah-Fraktion besteht aus einem Gemisch sehr vieler verschiedener Kohlenwasserstoffe mit verschiedenen Eigenschaften. Für viele dieser Einzelsubstanzen gibt es bislang noch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu ihrer Wirkung auf den Körper.

Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) beschränkt sich in seiner aktuellen Stellungnahme zu Mineralöl in Kosmetika aus dem Jahr 2015 darauf, die Effekte auf der Haut zu beschreiben. In einer Expertenrunde hätten Dermatologen betont, dass es keine Hinweise auf gesundheitsschädliche Effekte für die Haut gebe, die auf kosmetische Mittel zurückgeführt werden könnten. Es sei „nicht bekannt, dass der Gebrauch von Lippenstiften eine Erhöhung der Hautkrebsrate im Mundbereich zur Folge hätte“. Was hingegen die orale Aufnahme von mineralölhaltigen Lippenstiften oder Handcremes angehe, bestünden „Datenlücken“.

Für Verbraucher ein unbefriedigendes Fazit. Für Verbraucherschützer wie Etzenbach-Effers ist die Schlussfolgerung klar: „Wir raten generell davon ab, Lippenpflegeprodukte mit Mineralöl zu benutzen.“

Denn dass es auch ohne geht, zeigen 15 Produkte, die Stiftung Warentest empfiehlt, darunter auch die Eigenmarken der Drogerieriesen dm und Rossmann sowie die Eigenmarke von Lidl. Auf Anfrage der Warentester hatte der Discounter angegeben, von Mineralöl bei seiner Lippenpflege auf pflanzliche Fette wie Bienenwachs umgestiegen zu sein.

Damit tut es Lidl den zahlreichen Naturkosmetikanbietern gleich: „In zertifizierter Naturkosmetik ist Mineralöl verboten“, erklärt Etzenbach-Effers, „Verbraucher können dabei auf das BDIH- oder das Natrue-Label achten“. Bilder von Pflanzen oder prominent erwähnte Pflanzenöle seien hingegen keine Garantie. „Verbraucher sollten nicht darauf vertrauen, dass kein Mineralöl enthalten ist, nur weil auf der Verpackung pflanzliche Bestandteile wie Sheabutter beworben werden“, so Etzenbach-Effers. Es gelte, die Liste der Inhaltsstoffe genau zu lesen.