Rio de Janeiro.

Es ist ein neuer Höhepunkt eines beispiellos blutigen Jahresauftakts in brasilianischen Gefängnissen: Rund 150 Häftlingen, darunter Serienmörder, Gangchefs und Vergewaltiger, ist die Flucht aus dem Gefängnis der Stadt Bauru im Großraum São Paulo gelungen. Auslöser war ein Wärter, der ein Handy konfisziert hatte. Die meuternden Sträflinge setzten daraufhin die Zellen in Brand. Es kam zu einer Massenpanik; das Chaos nutzten die Häftlinge zur Flucht. Rund 100 Sträflinge konnten in den nächsten Stunden wieder eingefangen werden. Die anderen waren mit gestohlenen Autos über alle Berge. Das Gebäude stand in Flammen.

125 Menschen starben allein schon in diesem Jahr bei Gefängnis-Revolten. Anfang Januar führte ein Aufstand im Gefängnis Anísio Jobím in Manaus zu 56 Toten. Die Häftlinge, Mitglieder verfeindeter Gangs, töteten sich auf bestialische Weise, köpften oder zerstückelten die Leichen. Vier Tage später starben in einem Zuchthaus in Roraima 33 Insassen. Am 15. Januar entkamen Dutzende Häftlinge aus einem Gefängnis in Piraquara. Für den Ausbruch sprengten 15 Komplizen ein Loch in die Mauer, während die Flüchtenden mit vollautomatischen Waffen auf die Polizisten feuerten. Dann entkamen im Städtchen Natal Mitglieder verfeindeter Drogenclans aus ihren Zellen und metzelten 26 Mitinsassen mit Macheten nieder – oder enthaupteten sie. Erst der Einsatz des Polizeikommandos „Special Operations Battalion“ stoppte das Morden.

Anlass für die Bluttaten sind vor allem Stellvertreterkriege zwischen einsitzenden Mitgliedern rivalisierender Banden, die um die Kontrolle des Drogenhandels innerhalb und außerhalb der Mauern kämpfen. Das Wachpersonal hält sich heraus. Folge: Das Machtmonopol liegt ganz bei den Insassen. „Und der Kampf um die Macht wird in brasilianischen Gefängnissen mit Gewalt gewonnen“, sagt Virgolino Walber, Justizsekretär des Bundesstaates Rio Grande do Norte. Außerdem sind die Haftanstalten gnadenlos überfüllt: Nach Angaben des Justizministeriums sitzen 622.000 Häftlinge in Gefängnissen mit einer Gesamtkapazität von nur 372.000 Plätzen ein. Nach den USA, China und Russland ist Brasilien derzeit das Land mit der höchsten Zahl an Gefangenen weltweit. Und ihre Zahl steigt rapide.

Die Sträflinge in Brasilien sind zumeist Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Der 23-jährige Marcis Ninicius sitzt mit 1100 Menschen im Gefängnis von Natal – gebaut wurde es für 62o Insassen. Mit 25 Gramm Marihuana erwischte ihn die Polizei im vergangenen Jahr, fünf Jahre Haft hat er noch vor sich. „Es wird schwer sein, jemals wieder eine Arbeit zu finden“, sagt der Familienvater. „Wer in Brasilien eingesessen hat, wird von den Mitmenschen gemieden.“

1000 Soldaten sollen Waffen sicherstellen

„Jede erforderliche Hilfe“, versprach nun Präsident Michel Temer der schockierten Bevölkerung. Für den Anfang entsandte die Regierung landesweit 1000 Soldaten, um Waffen sicherzustellen. Eine Summe von rund 86 Millionen Euro wurde zur Verfügung gestellt, für Störsender gegen die Handy-Absprachen, aber auch für Körperscanner und Detektoren.

Experten versprechen sich davon nur kurzfristige Erfolge. „Der Schlüssel wäre eine Reform des Gefängnissystems. Doch der Staat hat kein Geld, um neue Strafanstalten zu bauen“, sagt César Munoz von Human Rights Watch. Dem Justizsystem könne erst ein Neustart gelingen, wenn sich die herrschende politische Kaste verabschiede. So sagte Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva einmal: „In Brasilien geht ein armer Mann ins Gefängnis, wenn er stiehlt. Wenn ein reicher Mann stiehlt, wird er zum Minister.“