Moskau.

Jelena Erchowa spricht kein Wort Englisch. „Aber wovor soll ich Angst haben? Die Leute sind sehr gut, helfen mir überall, am Flughafen und im Hotel.“ Sie ist grauhaarig, sehr klein, ihr Gesicht runzlig, ihre Brille riesig. Aber in Russland ist die 89-jährige Rentnerin aus Krasnojarsk in Sibirien inzwischen ein Star, und nicht nur dort. Sie wird zu Talkshows nach Moskau eingeladen. Auf Instagram und Facebook, wo sie sich einfach „Oma Lena“ nennt, kursieren ihre Fotos, Posts und Videos zu Zehntausenden. „Oma Lena, wir verneigen uns vor dir!“, schreibt sogar der britische „Independent“.

Oma Lena ist Reisende. Seit sechs Jahren tourt sie mit einem Rücksack als einzigem Gepäckstück durch die Welt. Sie hat schon Tschechien, Deutschland, Polen und die Türkei, aber auch Vietnam und Israel besucht. Gerade ist sie in Thailand unterwegs. Ihre Fans teilen „Oma-Lena-Sichtungen“ im Internet, posieren mit ihr auf Selfies: „Gerade am Affenstrand überraschend Oma Lena getroffen... Und dabei ein wenig über meine eigene Zukunft nachgedacht.“

Die unerschrockene Seniorin fährt in Vietnam auf dem Motorroller, reitet in Israel auf einem Kamel, lässt sich von neuen Bekanntschaften in die Wellen verschiedener Weltmeere helfen, probiert exotische Gerichte und fremde Getränke. „Was ist das? Ein Smoothie? Schmeckt gut, dieses Smoothie.“

Die kühne Seniorin ist ein Internet-Phänomen

Oma Lena hat eine sehr schweres, sehr sowjetisches Leben hinter sich. Mit drei Jahren wurde sie Vollwaise, im Krieg schuftete sie als Erntehelferin. Sie heiratete, ihr Mann soff und verprügelte sie. Lena zog mit ihrer einzigen Tochter nach Krasnojarsk, sorgte auf Baustellen und an Fließbändern für den Lebensunterhalt.

Auf einem Auge ist Oma Lena praktisch blind, mit dem anderen sieht sie nur schlecht. Aber sie trotzt dem eigenen Alter. Und der in Russland verbreiteten Meinung, Mütterchen hätten demütig auf einer Ofen- oder Hofbank dem Ende entgegenzuharren, erst recht jene Mütterchen, deren Alter die mittlere statistische Lebenserwartung von 76,7 Jahren übertrifft.

Ihre ersten Touren bezahlte Oma Lena von umgerechnet gut 320 Euro Veteranenrente, das ist immerhin über der Durchschnittrente von 220 Euro im Monat. Im Sommer verdient sie durch den Verkauf von Blumen etwas hinzu. Die Angestellten in den Krasnojarsker Reisebüros suchten ihr die billigsten Sonderangebote heraus, ihr Trip nach Vietnam kostete sie keine 900 Euro. Ihre wichtigste Währung: Die kühne Rentnerin verbreitet Herzlichkeit und bekommt sie zurück. Ein Tscheche schenkte ihr spontan seinen Fotoapparat, eine deutsche Zufallsbekannte lud sie zu sich nach Hause ein, Gastwirte geben ihr Rabatt. Der Vietnamese, mit dem sie Moped fuhr, umarmte sie hinterher. „Das Reisen ist ein neues Leben“, sagt Oma Lena. „Das Wichtigste, was ich dabei gelernt habe, ist, dass es in allen Ländern sehr viele großartige Menschen gibt.“ Auf Facebook hagelt es Einladungen aus der Schweiz, Honduras, von den Kanaren. Und Oma Lenas Enkel hat inzwischen die Nummer eines Krasnojarsker Sparkassenkontos auf Facebook gestellt, für alle, die sie finanziell unterstützen wollen. Das sind nicht nur Spender im eigentlichen Sinn, sondern immer öfter auch Sponsoren. Ein Modeguru in Moskau kleidete sie neu ein, der Staatssender NTW organisierte ihren Trip nach Israel, für Thailand griff ihr der Schlagerstar Nikolai Baskow unter die Arme. Und zum 90. Geburtstag will Oma Lena in die Dominikanische Republik reisen. Alleine, wieder nur mit einem Rucksack. „Warum soll ich Angst haben?“, sagt sie. „Sterben können wir alle nur einmal.“ Sie ist der lebendige Beweis, dass Reisen den Geist veredelt und mit Vorurteilen aufräumt. Egal in welchem Alter.