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Da muss das Kind durch. So lautete über Jahrzehnte hinweg die Meinung zum Thema Masern. „Weil man nicht viel über die Risiken der Krankheit wusste“, sagt Dr. Thomas Fischbach. Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte und niedergelassener Mediziner in Köln plädiert für eine Impfpflicht – auch angesichts der neuesten Daten, die das Robert Koch-Institut (RKI) jetzt im Januar bekannt gab: Pro Landkreis sind demnach in Deutschland durchschnittlich 434 Zweijährige nicht vollständig und 65 Zweijährige gar nicht gegen Masern geimpft. Das ergab eine aktuelle Auswertung von Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV). Vor allem in den Ballungsräumen gibt es Probleme: In Dresden, Hamburg, Köln, Leipzig und München hatten im Alter von 24 Monaten jeweils zwischen 2000 und 4100 Kinder des Jahrgangs 2013 keinen ausreichenden Masern-Impfschutz, in Berlin sogar 7300.

Warum können Masern so gefährlich werden?
Die Erkrankung kann lebensgefährliche Folgen haben. „Zum Beispiel eine chronische Form der Hirnhautentzündung, die oft erst nach Jahren auftritt“, sagt Thomas Fischbach. Sie sei häufiger als früher gedacht. Auf 9100 bis 15.400 Masernkranke komme ein Fall. „Das Risiko ist bei Säuglingen und Kleinkindern besonders hoch“, erklärt Fischbach.

Diese Hirnhautentzündung sei besonders gefürchtet, weil sie nicht gestoppt werden könne: Erst fallen die Kinder auf, weil sie unkonzentriert und vergesslich sind, dann verändert sich ihre Persönlichkeit, weil das Gehirn unaufhaltsam und mit tödlicher Sicherheit verfällt – ohne dass Mediziner etwas dagegen ausrichten können. Fischbach: „Masern können allerdings auch für eine akute Hirnhautentzündung sorgen, die im Überlebensfall beispielsweise Sprachstörungen zur Folge haben kann. Ernsthafte und schlimmstenfalls tödlich endende Lungenentzündungen sind ebenfalls möglich.“

Wie steckt man sich an?
„Masern gehören zu den ansteckendsten Krankheiten überhaupt“, sagt Kinder- und Jugendarzt Fischbach. Tröpfchen infizieren nach seinen Worten jeden, der nicht immun ist, schon über große Distanzen hinweg. Immun wird in der Regel, wer geimpft ist oder schon einmal erkrankt war.

„Bereits fünf Tage, bevor die Masern ausbrechen, können sie ansteckend sein“, erläutert Fischbach die Tatsache, weshalb oft auf einen Schlag alle Besucher einer Kindertageseinrichtung betroffen sind: „Wir hatten im Jahr 2015 mehrere große Ausbrüche, den größten in Berlin. 2464 Masern-Fälle wurden insgesamt gemeldet.“

Besonders gefährdet seien Säuglinge vor dem neunten Monat, da sie in diesem Alter noch nicht geimpft werden könnten. Diese sind daher auf die sogenannte Herdenimmunität angewiesen – darauf also, dass die Menschen in ihrer Umgebung geimpft sind.

Wie verläuft die Krankheit?
Anfangs werden Masern oft mit einer Erkältung oder einem grippalen Infekt verwechselt: Im ersten Stadium steigt das Fieber, eine Bronchitis und eine Bindehautentzündung breiten sich aus. „Erst im zweiten Stadium, wenn das Fieber nach anfänglichem Rückgang wieder ansteigt, machen sich die roten Hautflecken bemerkbar, die man mit den Masern in Verbindung bringt“, sagt Thomas Fischbach. Dieses sogenannte makulopapulöse Masernexanthem entsteht laut Robert Koch-Institut am dritten bis siebten Tag. Die Flecken tauchen zuerst im Gesicht und hinter den Ohren auf.

Im dritten Stadium haben Patienten für mindestens sechs Wochen noch ein schwaches Immunsystem und sind anfällig für andere Erkrankungen.
Warum sind nicht alle Menschen durch Impfung geschützt?
Normalerweise gehört die Masernvorbeugung zur sogenannten Grundimmunisierung. Kinder sollten laut einer Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) bis zu ihrem 18. Lebensmonat dagegen geimpft werden, Eltern bekommen ein Schreiben zur Erinnerung. „Oft wird die Impfung aber nicht gemacht, weil das Kind zum Beispiel an banalen Infekten erkrankt ist – und danach wird sie vergessen“, erklärt Experte Fischbach die Defizite bei der Impfquote.

Ein Grund für die Sorglosigkeit vieler Eltern: Sie kennen die Krankheit und ihre möglichen Folgen nicht. „Das Erinnern an die Impfung wird nicht unterstützt, es gibt keine Verbindlichkeit. Selbst das neue Präventionsgesetz schreibt nur eine Beratung der Eltern aufgrund der geltenden Impfempfehlungen vor“, kritisiert Fischbach, der von Politikern die Impfpflicht als Zeichen der Fürsorge fordert und darauf hinweist, dass selbst die USA inzwischen masernfrei seien. Auch RKI-Präsident Lothar H. Wieler empfindet es als schlimm, dass Deutschland inzwischen in Europa das Schlusslicht der Masernelimination darstellt.


Kann die Immunisierung auch Gefahren bergen?
Impfgegner oder -skeptiker argumentieren etwa, dass durch viele Impfungen das Immunsystem von Kindern überlastet würde oder dass Nebenwirkungen unkalkulierbar seien. Das Robert Koch-Institut hat darauf reagiert und online eine Liste mit Antworten auf die 20 gängigsten Argumente der Skeptiker zusammengestellt (http://bit.ly/2jbIhHu).

„Es gibt keine nennenswerten Komplikationen im Vergleich zu den schlimmen Folgen, die eine Erkrankung haben kann“, erklärt Thomas Fischbach. Ein leichtes Fieber könne daraus resultieren, dass das Immunsystem durch die Impfung herausgefordert werde, die Einstichstelle könne ein wenig rot werden und anschwellen. Wenn ein Hautausschlag auftrete, so sei dies keine Erkrankung – und die Flecken verschwinden laut dem Experten auch bald wieder.

Wer impft?
Nicht nur Kinder- und Jugendärzte, sondern auch Frauenärzte und Allgemeinmediziner können impfen. Wer sich nicht sicher ist, ob er geschützt ist, sollte sich die Immunisierung nach Worten von Thomas Fischbach unbedingt holen: „Es macht gar nichts, wenn man die Spritze mehrfach erhält. Um sicherzugehen, gebe ich diese auch ungeimpften Eltern, wenn sie mit ihren Kindern kommen.“