Hamburg. Positiv ins neue Jahr gehen und Selbstkritik nicht mit Selbstaufgabe verwechseln. Die Rede von Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider.

Liebe Freunde des Hamburger Abendblatts,

(...) die Elbphilharmonie wird eröffnet. Vor wenigen Jahren wäre dieser Satz ein Riesenlacher gewesen. Jetzt lacht niemand mehr. Jetzt wollen alle bei der Eröffnung dabei sein – außer Horst Seehofer. Der hat abgesagt, und das trotz klarer Obergrenze bei der Gästezahl. Es soll Menschen in diesem Saal geben, die versucht haben, ihre Einladung für unseren Neujahrsempfang gegen eine Einladung für die Eröffnung der Elbphilharmonie zu tauschen – im Verhältnis 1:1! Zum Vergleich: Normalerweise bekommt man für eine Einladung zum Neujahrsempfang drei Dauerkarten des HSV, in diesem Jahr wären es sogar zehn gewesen. (...)

Jetzt feiern wir – den Konzertsaal und den Abschied von dem Hamburg, wie es die Welt bisher gekannt hat. Denn das neue Wahrzeichen mag für vieles stehen, für hanseatisches Understatement steht es nicht. Die Elbphilharmonie ist ein in Stein und andere unbezahlbare Materialien gehauenes Bekenntnis der Stadt, das da heißt: Wir wollen mehr, wir wollen auf den Fundamenten des alten ein neues Hamburg bauen. Oder, um es mit den Worten von Olaf Scholz zu sagen: I will make Hamburg great again!

Nein, das hat der Bürgermeister natürlich nicht gesagt. Er hat gesagt: I want my money back, und damit nicht die Elbphilharmonie gemeint. Wobei die Chance, dass die Elbphilharmonie das Geld der Steuerzahler zurückverdient, deutlich größer ist als bei anderen staatlichen Investments. (...)

Die Welt ist nicht wiederzuerkennen

Selten hatten wir so ein spannendes Jahr vor uns wie jetzt. Wenn ich 2011 behauptet hätte, dass 2017 beim G20-Treffen in Hamburg der US-Präsident Donald Trump Arm in Arm mit Wladimir Putin zu einem Konzert in die Elbphilharmonie gehen wird, ja, dann hätte ich gleich in Bremen bleiben können. Aber genau so wird es kommen. Die Welt ist nicht wiederzuerkennen, im Großen wie im Kleinen. Donald Trump kann sagen, was er will, und die Amerikaner wählen ihn trotzdem. Der Präses unserer Handelskammer dagegen darf eigentlich gar nichts mehr sagen, es sei denn, es hat einen klaren wirtschaftlichen Bezug. Da wird selbst eine Formulierung wie frohes neues Jahr schwierig.

Wird es denn ein frohes neues Jahr? Aber unbedingt! Lassen Sie uns den allgegenwärtigen Terror in der Gewissheit ernst nehmen, dass er nie unsere Art zu leben und unseren Glauben an eine friedliche, bessere Welt wird zerstören können. Lassen Sie uns nicht in Angst erstarren, lassen Sie uns positiv nach vorn blicken! Optimismus statt Populismus: Wer führen will muss fröhlich sein!

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Natürlich müssen wir über die Pro­bleme in unserer Welt diskutieren, über die ungeheuren Veränderungen, die Globalisierung und Digitalisierung mit sich bringen. Aber lassen Sie uns bitte, und das ist auch ein Appell an meine Kollegen und mich, nicht immer alles nur schlecht sehen. Wir dürfen gerade im Trump-Zeitalter nicht so tun, als ob auch Deutschland nur noch aus Modernisierungsverlierern besteht, aus Leuten, die sich aus lauter Angst vor der Zukunft und dem Rest der Welt am liebsten in ihrem Haus einschließen würden – wenn sie denn eins haben, ist ja in Hamburg nicht so leicht. Wir müssen sehen und sagen, wie gut dieses Land, wie gut diese Stadt ist, in der wir leben. Dass früher eben nicht alles besser war. Dass wir für alle viel erreicht haben: Frieden, Einheit, nahezu Vollbeschäftigung, exzellente Gesundheitsversorgung, kosten­lose Kita-Plätze, und, und, und … Seien Sie positiv, meine Damen und Herren, dann sind es andere auch. Wer führen will, muss fröhlich sein!

Selbstkritik ja, Selbstaufgabe bitte nicht

Wer das nicht kann, wird keine Wahlen gewinnen. Wer die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Stadt und Land, zwischen Jung und Alt nicht erkennt, allerdings auch nicht. Tatsächlich leben wir bei grundsätzlichen Fragen in einer 50:50-Welt. Das haben wir in Hamburg beim Olympia-Referendum gemerkt, in Europa beim Brexit, in den USA bei der Präsidentenwahl. Aber kann man den Eliten deshalb gleich kollektives Versagen vorwerfen? Weil sie die eine Hälfte der Menschen erreichen, die andere Hälfte nicht? Müssen sich Entscheider nach jeder noch so knappen Niederlage in den Staub werfen, obwohl sie mit ein paar Stimmen mehr Sieger gewesen wären? Ich halte die in Teilen der Eliten erfolgte Selbstgeißelung für übertrieben. Selbstkritik ja, Selbstaufgabe bitte nicht – weder in der Politik noch in den Medien. Jetzt ist die Zeit, für die Werte zu kämpfen, an die man glaubt.

Wir, die Journalisten, neigen ja auch dazu, uns einschüchtern zu lassen, Stichwort: Lügenpresse. Ich werde hellhörig, wenn Journalisten vorgeschrieben werden soll, wie sie zu sein und über wen sie zu berichten haben. Und ich werde oft gefragt, wonach wir beim Hamburger Abendblatt auswählen, was wir veröffentlichen und was nicht. Die Antwort: Wir haben eine Checkliste entwickelt, mit der wir jede Geschichte überprüfen. Ist sie für viele unserer Leser interessant? Erfahren unsere Leser etwas Neues? Etwas, das Ihnen hilft, sich eine Meinung zu bilden? Das sind unter anderem Fragen, die uns in unserer täglichen Arbeit leiten, nicht die Vorlieben des Chefredakteurs, nicht Einflüsterungen von oben und schon gar nicht irgendein Algorithmus. Viel zu oft wird uns, den Journalisten, vorgeworfen, wir seien Teil der Elite, und damit Teil des Problems. (...) Nein, wir sind nicht Teil des Problems, wir Journalisten sind, gerade in postfaktischen Zeiten, Teil der Lösung. Aber eben nur so lange, wie wir frei in dem sind, was wir tun und wie wir berichten.

Zu berichten wird es viel geben

Und zu berichten wird es in den kommenden zwölf Monaten viel geben, es wird turbulent und ja, es wird auch unterhaltsam: Da müssen wir gar nicht in die USA gucken, da reicht ein Blick auf den mit 99 Prozent zum Spitzenkandidaten der FDP in Schleswig-Holstein gewählten Wolfgang Kubicki, der seine Konkurrenten gern mal als „begnadete Grabredner“ oder „Nobelsozialisten“ bezeichnet. Und der gleich hinterherschickt, er werde Schleswig-Holstein „great again“ machen. Dabei ist man im echten Norden so gut drauf wie lange nicht mehr: Die Schleswig-Holsteiner führen die Liste der glücklichsten Deutschen an, nicht die Hamburger. Und daran wird sich nichts ändern, im Gegenteil. Ich sage voraus: Hamburgs gestiegene Attraktivität wird innerhalb der Stadt zu einem immer größeren Kampf um bezahlbaren Wohnraum führen. Und der große Gewinner dieser Entwicklung, die letzte Rettung insbesondere für Familien wird Schleswig-Holstein sein.

Natürlich steht die Wahl bei Ihnen, lieber Herr Albig, lieber Herr Günther, lieber Herr Kubicki, im Schatten der wichtigsten Wahl des Jahres. Sie wissen schon: Ich rede von der Wahl zum Plenum der Handelskammer. Vor einem Jahr schrieb das Abendblatt in einem glossierenden Jahresausblick, dass es dabei zu einem Dreikampf um die Macht kommen werde. Hier das Bündnis „Wir sind die Kammer“, dort die Initiative „Die Kammer sind WIR!“ und mittendrin natürlich „Wir sind auch die Kammer“. Verrückt? Realität! Und fast so spannend wie die Frage, wer denn nun Kanzlerkandidat der SPD wird. Ein kleiner Tipp: Die beiden letzten sozialdemokratischen Kanzler waren eher kleine Männer, kamen aus Norddeutschland und ihr Name begann mit Sch ... So, und Martin Schulz ist ja bekanntermaßen in Nordrhein-Westfalen geboren, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wenn sie sich übrigens fragen, wo Angela Merkel heute ist – Sie wissen doch: Die Hamburger CDU und Frauen, ein ganz schwieriges Thema.

Zum Glück kein Volksentscheid zur Flüchtlingskrise

Liebe Freunde des Hamburger Abendblatts, am Ende möchte ich Danke sagen. Heute vor einem Jahr habe ich mir an dieser Stelle gewünscht, dass wir bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise niemanden ausgrenzen. Wörtlich sagte ich damals: „Lassen Sie uns aus den Volksentscheiden lernen – und nebenbei hoffen, dass es zur Flüchtlingskrise nie einen Volksentscheid geben wird.“ Genauso ist es zum Glück gekommen, und das haben wir zwei Politikern zu verdanken, die das gemacht haben, was man in Zeiten wie diesen machen muss: Sie haben die Menschen mitgenommen. Danke, Andreas Dressel, Danke Anjes Tjarks – man nennt Sie zu Recht das A-Team.

Ich wünsche Ihnen allen ein frohes, sicheres und gerechtes neues Jahr!