Wie soll ein Kind lernen, sauber zu schreiben und keinen Kakao auf die Matheaufgaben zu schütten, wenn Klassenräume völlig verrottet sind?

    Dieses Jahr kommt die Tochter in die Schule. Unsere Einzugsschule ist riesig, alt und so verrottet, dass ich noch nicht einmal kurz zum Wählen eines neuen Senats hingehen, sondern stattdessen Briefwahl beantragen würde. Vielleicht ist ja deshalb die Wahlbeteiligung häufig so niedrig, weil man immer in diesen Schulruinen abstimmen muss. Auf der Schultoilette, die es schafft, fast gänzlich ohne Klobrillen auszukommen, habe ich zwischen den alten Doppelfenstern so viele tote Insekten gesehen, wie man sie noch nicht einmal nach einer sommerlichen Autobahnfahrt von Kiel nach Rimini auf Windschutzscheibe und Kühlergrill findet. Wer täglich in den verwahrlosten Hortraum mit den fleckigen Sofas und den kaputten Spielen geht, hat anschließend garantiert auch keine Angst mehr vor drei Jahren Haft ohne Bewährung.

    Wir sind vor knapp zwei Jahren mit den Kindern in den Südwesten Berlins gezogen. Dort gibt es bestimmt größere Gärten und tolle Grundschulen, hatten wir gedacht. Das mit den Gärten stimmte. Bei den Schulen hätte ich ruhig mal vorher die Sache mit den 400 Millionen Euro Sanierungsstau durchlesen sollen. Vermutlich hätten wir noch ein bisschen weiter nach Südwesten ziehen sollen. Ein paar Hundert Kilometer weiter. Da sollen die Schulen ja tatsächlich besser sein.

    Aber ich hätte es sowieso nicht geglaubt, wie es in Berlin zugeht. Die übertreiben doch alle, hätte ich gedacht. So schlimm wird es schon nicht sein, und ich wollte nicht eine von diesen Müttern sein, die sich über alles aufregen. Tja, guter Vorsatz, aber nicht geschafft. Bevor ich mir im vergangenen Jahr diverse Grundschulen angeschaut hatte, hätte ich es nicht für möglich gehalten, unter welchen Bedingungen, in welch teils düsteren, ranzigen Umgebungen unsere Kinder täglich mehrere Stunden lernen müssen.

    Und ich rede nicht von einer eventuell fehlenden Luxusausstattung mit Whiteboards oder Computern aus diesem Jahrhundert; ich bin Realist, ich weiß, die gibt es nur für Problemschulen, in denen schon Achtjährige Stühle oder die Lehrerin aus dem Fenster werfen. Ich rede von der ganz normalen Umgebung für ganz normale (noch) unauffällige Schüler. Ich rede auch nicht von den vielen Experimenten, der Früheinschulung, der zurückgenommenen Früheinschulung. Auch nicht von Jül und dem zurückgenommenen Jül. Und auch nicht vom Schreiben nach Gehör, das jetzt schon die ersten partiellen Analphabeten produziert hat.

    Kürzlich war Besuch aus Luxemburg da. Der Neunjährige schreibt bessere Deutschdiktate als seine gleichaltrige Freundin aus Berlin. Wohlgemerkt: Für ihn ist es eine Fremdsprache.

    Ich rede auch nicht vom Lehrermangel. In Berlin kann ja neuerdings theoretisch jeder Lehrer werden. Hauptsache, er oder sie erklärt sich überhaupt dazu bereit. Ich rede von Dreck und Verfall. Ich rede von der Basis. Eigentlich bin ich nicht besonders empfindlich, ganz im Gegenteil, ich finde eine ordentliche Portion Dreck ist sogar zwingend notwendig. Dreck macht Spaß und härtet ab. Bauernhofdreck, Walddreck, Spielplatz- oder Gartendreck. Schulklassendreck gehört nicht dazu. Und ich frage mich, was das eigentlich mit den Kindern macht. Wie ist es, wenn man als Sechs- oder Siebenjähriger in so einer Umgebung zu hören bekommt, dass man sauberer schreiben soll, keinen Kakao auf die Matheaufgaben kleckern, die Schulbücher nicht knicken und bekritzeln soll und die Tische nicht bemalen. Wieso, weshalb, warum eigentlich? Dreck befördert noch mehr Dreck, besagt die Broken-Windows-Theorie, das Prinzip der eingeschlagenen Scheiben.

    Wir haben Glück gehabt. Das Kind muss nicht in die Schulruine gehen. Es hat einen Platz auf der Wunschschule bekommen. Die gibt es ja zum Glück hin und wieder auch noch. In drei bis fünf Jahren geht die Suche nach der weiterführenden Schule los. Bis dahin ist bestimmt alles gut.