Berlin.

Auf dem Blog von Marlies Hübner (robotinabox.de) lese ich: „Spontane Änderungen von Uhrzeit und Ort der Verabredung sind keine gute Idee.“ Der Eintrag ist zwar überschrieben mit „How to date an autistic“ (Wie man einen Autisten datet), aber ein Interview ist ja ein bisschen wie ein Date. Zwei Menschen, die einander nicht kennen, sollen ein gutes Gespräch führen. Ich komme also viel zu früh. Marlies Hübner ist schon da. Sie ist Autistin und hat über das Leben damit das zu großen Teilen autobiografische Buch „Verstörungstheorien“ geschrieben. Das Gespräch findet in einem ehemaligen Fotoatelier in einem Berliner Hinterhof statt. Ruhe ist sehr wichtig für die 31-Jährige. Und: Routine.

Hamburger Abendblatt: Frau Hübner, Interviews sind keine Routine für Sie. Wie geht es Ihnen damit?

Marlies Hübner: Es ist ziemlich aufregend. Hier ist Vorbereitung alles. Ich gehe lange Zeit vorher hypothetisch die Gespräche im Kopf durch. Ich spiele alle denkbaren Varianten durch.

Wenn ich ehrlich bin – ich war vorher auch nervös.

Hübner: Nicht nötig, denn bei Autisten ist es eigentlich simpel: Solange du alles eindeutig formulierst, gibt es keine Kommunikationsprobleme. Unangenehm wird es, wenn der andere merkwürdige Signale sendet, die ich nicht entschlüsseln kann.

„Es ist nicht so, dass ich die Welt da draußen ablehne. Vielmehr glaube ich, dass man mich mit der falschen Ausrüstung in diese geschickt hat. Das Leben mit Autismus fühlt sich zu oft an, als verlange man von mir, im Ski-Anzug zu schwimmen.“ (Auszug aus dem Buch „Verstörungstheorien“)

Wie kommunizieren Sie?

Hübner: Auf dem Informationskanal. Alles drumherum ist wie eine Fremdsprache, die man schon gehört hat, aber auch mit ganz viel Lernen nicht verstehen kann.

Sie haben versucht, sich Kommunikation wie eine Fremdsprache anzueignen?

Hübner: Ja. Ich habe zum Beispiel früher mal ein Buch über Körpersprache durchgearbeitet. Immer und immer wieder. Trotzdem kann ich Körpersprache nicht lesen. In der Theorie natürlich schon, aber in der Praxis funktioniert es nicht. Ironie und Sarkasmus gehen auch nicht.

Sind Sie selbst auch nie ironisch?

Hübner: Ich bin ein unfassbar zynischer Mensch. Aber ich verstehe nicht, wenn der andere auf diese Art kommuniziert. Autisten sind in der Regel auch untalentierte Lügner, und wir erkennen nicht, wenn uns jemand anlügt. Das ist sehr unangenehm, weil Menschen ständig lügen.

Sie meinen dieses „Wie geht’s?“-„Mir geht’s gut“-Ding?

Hübner: Zum Beispiel. Daran zerbrechen Freundschaften. Es klingt so banal, ist aber wahnsinnig weitreichend. Und dann die soziale Komponente. Der Aufbau und Erhalt jeglicher sozialer Kontakte ist sehr kompliziert, weil das nach Regeln geschieht, die nicht aufgeschrieben werden können. Ihr Neurotypischen wisst automatisch, wie das funktioniert. Keine Ahnung woher.

Sie haben mit 27 die Diagnose Autismus bekommen. Haben Sie als Kind gemerkt, dass Sie anders sind?

Hübner: Natürlich, und deshalb habe ich schon früh versucht, aus Büchern zu lernen, wie Menschen funktionieren. Ich habe auch versucht, das Verhalten literarischer Figuren auf das Alltagsleben zu übertragen. Damit bin ich erwartungsgemäß gnadenlos gescheitert.

Freundschaft kostet Sie viel Kraft?

Hübner: Definitiv. Weil Freundschaft ganz stark über die nonverbale Ebene läuft. Menschen sind es zum Beispiel nicht gewohnt, alles klar und eindeutig auszusprechen. Ich glaube, da geht es auch um anerzogene Hemmungen. Das macht die Sache kompliziert. Oder ich will mich nicht jede Woche treffen, weil mir der Alltag keine Kraft dafür lässt.

Was raubt Ihnen die Kraft?

Hübner: Existieren. Man bewegt sich in einer Welt, die nach Regeln funktioniert, die man nicht versteht und die nicht auf die eigenen Bedürfnisse angepasst ist: Sie ist laut, grell, hektisch. Wir können Sinnesreize nicht filtern, das autistische Gehirn nimmt alles permanent wahr.

Wie kann ich mir das konkret vorstellen?

Hübner: Jedes Geräusch wird gleich stark ins Hirn transportiert. Ob es wichtig ist oder nicht, das kann das Hirn nicht unterscheiden. Licht ist anstrengend. Geräusche, Gerüche, die Menschen, die in der Regel keine Rücksicht nehmen. Ich selbst bin aber darauf programmiert, immer Rücksicht zu nehmen. Termine, Gedanken und Ängste.

„Assoziiert der Nichtautist bei dem Geräusch von trappelnden Hufen Pferde, denkt der Autist zuerst an alle Huftiere, die er kennt. Dann schließt er jene aus, deren Vorkommen in der Gegend, in der er sich befindet, unwahrscheinlich ist. Danach bleiben noch immer so viele übrig, dass eine klare Aussage nicht möglich ist. Ein Autist wird mit hoher Wahrscheinlichkeit mitteilen, dass er das Geräusch aufgrund fehlender Informationen keinem Tier zuordnen kann.“

Halten die Menschen Sie für dumm?

Hübner: Das kommt leider vor. Das ist auch meine größte Angst. Weil man eben anders kommuniziert und manches nicht versteht. Daraus folgern die Menschen mangelnde Intelligenz. Was ich wahnsinnig anmaßend finde. Gerade bei den hochfunktionalen Autisten, die selbstständig im Alltag agieren können, kommt es ganz häufig vor, dass der IQ höher ist als beim Durchschnitt.

Auch bei Ihnen?

Hübner: Ich habe wohl laut Diagnostik eine Hochbegabung. Aber es ist blöd, darüber zu reden. Ich finde dieses „Hallo, ich bin Marlies, ich bin Autist und hochbegabt“ ganz furchtbar. Es interessiert letztlich niemanden. Mir ist es auch peinlich. Ich habe Angst, man denkt, ich würde mich damit profilieren wollen.

„Die Spanne absurder Vorurteile scheint unendlich groß zu sein. Oder aber man stößt gleich auf Unglauben. ‚Was? Du siehst gar nicht aus wie ein Autist‘, gehört dabei zu meinen Lieblingen. Vermutlich haben Autisten Arme, Beine und Augen in der für Menschen üblichen Anzahl, aber wer weiß das schon so genau.“

Gibt es auch Eigenschaften, auf die Sie stolz sind? Was ist mit der Ehrlichkeit?

Hübner:Das halte ich nicht für einen Vorteil. Es ist gerade in oberflächlichen Sozialbeziehungen von Vorteil, lügen und sich verstellen zu können. Man sieht mir an, wenn ich jemanden nicht mag.

Die Hochbegabung ist ein Vorurteil über Autisten. Welche gibt es noch?

Hübner: Die meisten Menschen haben dieses Rain-Man-Ding im Kopf. Was großer Schwachsinn ist, weil der Mann, der als Vorbild diente, kein Autist war. Er war ein Inselbegabter. Die anderen gehen von einer schweren geistigen Behinderung aus. Wieder andere denken, wir sind alle Sheldon Coopers aus der Serie „The Big Bang Theory“.

Wo liegt die Wahrheit?

Hübner: Es gibt ein großes Spektrum, in dem sich alle Autisten befinden, und keine zwei befinden sich auf demselben Punkt. So wie auch alle Neurotypischen verschieden sind. Autismus ist schwer und schränkt das Leben ein. Es ist aber auch kein Weltuntergang, man kann lernen, gut damit zu leben.