Hamburg. Studien ließen die Hoffnung keimen, dass erhöhtes Körpergewicht kein manifestes Gesundheitsrisiko darstellt. Leider falsch, sagen andere Forscher.

Es klingt verrückt, ist aber wahr: Normale Menschen werden immer weniger, zumindest was das Körpergewicht angeht. Schon heute sind normalgewichtige Männer in Deutschland ab der Altersgruppe 30–34 Jahre und normalgewichtige Frauen ab der Altersgruppe 55–59 Jahre in der Minderheit. Insgesamt wiegen deutsche Männer aktuell gegenüber dem Jahr 1999 bei (fast) unveränderter durchschnittlicher Körperlänge im Durchschnitt 2,6 Kilogramm mehr. Bei Frauen war der Gewichtszuwachs im gleichen Zeitraum mit 1,4 kg nur halb so stark ausgeprägt.

Laut aktueller „Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland“ sind heute 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen übergewichtig. Während dieser Anteil seit Jahren auf diesem hohen Niveau konstant bleibt, steigt die Zahl der schwer Übergewichtigen weiter an. Mittlerweile sind 24 Prozent der Deutschen adipös und zwei Prozent extrem fettsüchtig. Somit leiden bereits 1,6 Millionen Deutsche unter Superfettsucht.

Am Schnellsten wachsendes Gesundheitsproblem

Fettleibigkeit stellt für die Gesellschaft das am schnellsten wachsende Gesundheitsproblem dar: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sprechen bereits von einer „globalen Adipositasepidemie“. Die Behandlung von Adipositas ist kostspielig, langdauernd und schwierig: Die gesundheitsökonomische Belastung, die allein in Deutschland durch Adipositas und ihre Folgeleiden entsteht, wird auf 17 Milliarden Euro im Jahr geschätzt.

In jüngerer Zeit hat sich um ebendiese Folgeleiden eine lebhafte Diskussion in der Fachwelt entwickelt. Bereits seit den 1980er-Jahren mehrten sich die Berichte, wonach Menschen mit zu vielen Pfunden nicht nur länger leben, sondern eventuell auch gesünder sind. Sie überleben belastende Situationen besser, obwohl ihr hohes Körpergewicht statistisch mit einer erhöhten Sterblichkeit verbunden ist. „Dicke leben länger als Dünne“ war eine der Überschriften, unter denen die hoffnungsvolle Neuigkeit verkündet wurde.

Tatsächlich haben einige Studien in der Vergangenheit immer wieder die Vermutung aufkommen lassen, dass es auch ungefährliche Formen des Übergewichts geben müsse: Menschen, die trotz zu vieler Kilos einen gesunden Stoffwechsel und keine Beeinträchtigung der Lebensqualität haben. Wenn adipöse Menschen metabolisch gesund sind, also nicht gleichzeitig unter hohem Blutdruck, Diabetes und Störungen des Fettstoffwechsels leiden, müssten sie eigentlich nicht mit einem erhöhten Sterberisiko rechnen, so die Annahme. Eine Behandlung wäre also nur für die Patienten wichtig, bei denen Folgeerkrankungen drohen oder bereits vorliegen.

Die Hamburger Ärztin und Gesundheitsforscherin Prof. Ingrid Mühlhauser bezeichnete deshalb das Übergewicht als ein „überschätztes Risiko“ und erklärte: „Das Körpergewicht mit der besten Lebenserwartung hat sich seit den 1970er-Jahren sowohl in den USA als auch in Deutschland zu höheren BMI Werten verschoben. Für das mittlere Lebensalter ist ein BMI um 27, jenseits des 70. Lebensjahrs ein BMI zwischen 27 und bis über 35 mit der geringsten Mortalität assoziiert. Das sogenannte Übergewicht ist in Bezug auf Lebenserwartung in Bevölkerungsanalysen also das Idealgewicht“.

Der Body-Mass-Index BMI stellt eine Orientierung für das Ausmaß des Übergewichts dar. Er korreliert – bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Kraftsportler, sehr kleine oder sehr große Personen) – relativ gut mit dem Körperfettgehalt. Der BMI ist national und international etabliert, weil er leicht und genau zu bestimmen und für beide Geschlechter und alle Altersgruppen anwendbar ist. Der BMI errechnet sich aus dem Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch das Quadrat der Körpergröße in Meter.

Folgende Gruppierung der Werte ist international gebräuchlich: BMI unter 18,5 = Untergewicht, BMI von 18,5 bis unter 25 = Normalgewicht, BMI von 25 oder mehr = Übergewicht (Adipositas Grad I), BMI von 30 oder mehr = Fettsucht (Adipositas Grad II). Menschen mit einem BMI von 40 und mehr werden zu den extrem Fettsüchtigen (Adipositas Grad III) gezählt.

Neben dem BMI ist auch die Verteilung der Fettdepots im Körper von Bedeutung. So gilt eine verstärkte Ablagerung im Bauchbereich (abdominale Fettablagerung), die vor allem Männer vorweisen, unabhängig von dem BMI als ein Risikofaktor für die Gesamtsterblichkeit.

Welchen Zusammenhang gibt es nun zwischen BMI und Mortalität? Mit dieser Frage beschäftigten sich Prof. Ralf Bender und seine Kollegen in der Adipositasambulanz der Klinik für Stoffwechselkrankheiten und Ernährung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Studie „Düsseldorf Obesity Mortality Study“ beobachtete das Schicksal von 6193 adipösen Patienten über 14 Jahre hinweg.

In dieser Zeit starben 1028 Patienten. Dabei zeigte sich, dass Frauen mit leichtem und deutlichem Übergewicht (bis BMI 32) eine genauso lange Lebenserwartung hatten wie die schlankere weibliche Durchschnittsbevölkerung in NRW. Erst ab BMI 40 kam es zu einer signifikanten Erhöhung der Sterblichkeit. Bei männlichen Teilnehmern stieg das Sterberisiko bereits bei einem BMI von 32 an. Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine US-Studie in Buffalo: Dort fand man die absolut niedrigste Sterblichkeit bei Männern mit einem BMI zwischen 24 und 26, also bereits an der Grenze zu Übergewicht.

Eine weitere Literaturübersicht ergab, dass zwar die Sterblichkeit bei Männern mit erheblichem Übergewicht ansteigt, das gleiche Schicksal droht aber auch Männern, die stark untergewichtig sind. Lassen solche statistischen Ergebnisse tatsächlich den Schluss zu, dass Dicke länger leben? Gibt es ihn wirklich, den gesunden Übergewichtigen? Oder ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich bei ihm Herz-Kreislauf-Erkrankungen einstellen?

Zehn Jahre lang geforscht

Eine Forschergruppe von Diabetologen am Mount Sinai Hospital in Toronto nahm unter Federführung von Dr. Ravi Retnakaran acht Studien aus den letzten zehn Jahren mit insgesamt 61.386 Personen unter die Lupe. Es handelte sich um Studien, die genaue Angaben zu BMI, den drei klinischen Risikofaktoren, zu kardiovaskulären Ereignissen und Todesfällen beinhalteten. Die Kanadier verglichen das Sterberisiko von normalgewichtigen Versuchspersonen mit dem von übergewichtigen und fettleibigen Patienten, und zwar solchen, die noch relativ gesund waren und die noch kein Diabetes, keinen Bluthochdruck und keinen Anstieg der Blutfette entwickelt hatten.

Die im Fachblatt „Annals of Internal Medicine“ publizierten Daten zeichneten ein differenziertes Bild des Geschehens: In den ersten zehn Jahren unterschied sich das Risikoprofil der stoffwechselunauffälligen Übergewichtigen und Adipösen zunächst nicht von dem gesunder Normalgewichtiger. Der avisierte Endpunkt Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Tod trat nicht häufiger auf. Danach allerdings erhöhte sich auch bei adipösen Patienten ohne hohen Blutdruck, Blutzucker oder auffälligen Blutfettwerten das Sterblichkeitsrisiko. Bei Patienten mit einem BMI von 30 und höher lag das Risiko trotz normaler Werte um 24 Prozent höher, zu sterben oder einen Schlaganfall oder Herzinfarkt zu erleiden.

Der stoffwechselgesunde Übergewichtige sei somit ein Mythos, lautet die Schlussfolgerung der kanadischen Gruppe. Retnakaran: „Eine exzessive Gewichtszunahme ist mit Risiken assoziiert, die sich im Laufe der Zeit entwickeln, schon bevor sie als metabolische oder kardiovaskuläre Warnzeichen in Laborwerten erkennbar werden.“ Deshalb sollten auch übergewichtige Patienten, bei denen noch keine auffälligen klinischen Werte vorliegen, ihre Lebensgewohnheiten überdenken. Sie sollten von ihren Ärzten zu mehr Bewegung im Alltag und zu Änderungen ihrer Ernährungsweise motiviert werden.

Die 2014 aktualisierte gemeinsame Leitlinie der vier Fachorganisationen Deutsche Adipositas-Gesellschaft, Deutsche Diabetes Gesellschaft, Deutsche Gesellschaft für Ernährung und Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin bezieht sich bei der Beurteilung des Sterberisikos auf die größte Datenbasis des US-amerikanischen Krebsinstituts von 1,46 Millionen weißen Erwachsenen. Danach erhöht sich das Sterblichkeitsrisiko von gesunden Nichtrauchern bei Übergewicht um 15 Prozent, bei Adipositas Grad I um 44 Prozent, bei Adipositas Grad II um 97 Prozent und bei extremer Fettsucht um 173 Prozent im Vergleich zu Personen mit einem BMI unter 25.

Die Leitlinie zitiert allerdings auch eine weitere Metaanalyse mit den Daten von 2,88 Millionen Personen: Darin wurde für Übergewichtige sogar ein Überlebensvorteil von sechs Prozent ermittelt und die Sterblichkeit bei allen Graden von Adipositas war lediglich um 18 Prozent erhöht. Auf eine Deutung dieser Unterschiede lassen sich die Autoren der Leitlinie allerdings nicht ein.