Der mutmaßliche Täter lebte mit seiner Familie in einem Stadtteil Lüneburgs, der als sozialer Brennpunkt gilt. Bürgermeister, Polizei und Bewohner wehren sich jetzt gegen eine Stigmatisierung.

Lüneburg. Die Schlagzeile: Familienvater ersticht seine Frau und eine Freundin der Familie. Der Ort: Kaltenmoor. Die Assoziation: schon wieder. Es ist das zweite Mal innerhalb eines Jahres, dass in dem Lüneburger Stadtteil ein Mord passiert. Typisch, sagen die einen. Die anderen warnen vor Stigmatisierung.

Es ist Sonntagnachmittag, als ein Nachbar Hilfeschreie aus der Wohnung an der Adolf-Reichwein-Straße hört. Es ist zu spät, als die Polizei eintrifft: Die Ehefrau, 32, ist bereits tot. Die Bekannte, 33, stirbt noch am Tatort. Die Polizei fahndet mit einem Foto und dem Autokennzeichnen eines blauen VW Golf, mit dem der mutmaßliche Täter Ziad Karnous wahrscheinlich unterwegs ist: LG-KA 102. Er spricht laut Polizei nur gebrochen Deutsch. Die Familie kommt aus dem Irak. Die Kinder sind acht, neun und elf Jahre alt.

Kaltenmoor. Während der Wohnungsnot in den 60er-Jahren hoch und schnell gebaut, leben in keinem Lüneburger Stadtteil so viele Menschen auf so wenig Raum. Für so wenig Miete. Mit so unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten. Da stehen achtstöckige Hochhäuser mit bröckelnden Balkonen flachen Taschenformat-Reihenhäusern mit geharkten Vorgärten gegenüber, da treffen sich Multikulti und Biedermann, Hartz IV und Bürgerlichkeit, Sozialmieten und Eigentum, leere Kühlschränke und gefüllte Kofferräume deutscher Limousinen.

So unterschiedlich die Lebenswirklichkeiten, so verschieden der Blick. Da ist die Spätaussiedlerin, die mit ihrer Großfamilie hergekommen ist und einen Beutel mit einem großen roten Herz bedruckt zum Einkaufen benutzt: „Ich liebe Lüneburg“.

Da ist der Oberbürgermeister Ulrich Mädge, der selbst seit Jahrzehnten im Viertel lebt und mit millionenschweren Projekten dagegen kämpft, dass aus dem Stadtteil ein Getto wird. Er sagt: „Vor allem müssen wir uns jetzt um die Kinder und die Angehörigen der beiden jungen Frauen kümmern, wir prüfen derzeit, welche Hilfen wir als Stadt anbieten können. So sprachlos man der Tat selbst gegenübersteht – die Polizei geht ja von einer Beziehungstat aus –, so wütend macht es mich, wenn so ein Geschehen wieder einmal dazu führt, dass der Stadtteil Kaltenmoor in der öffentlichen Wahrnehmung sehr holzschnittartig als ,sozialer Brennpunkt‘ wahrgenommen und dargestellt wird. Kaltenmoor hat sehr viel mehr Facetten. Stigmatisierung von Stadtteilen hilft ebenso wenig wie Stigmatisierung von Tätern nach Herkunft oder Wohnort.“

Da ist der Pastor, der im Ökumenischen Gemeindezentrum neben Bürgertreff, Fair-Preis-Café, Umsonstladen und osteuropäischem Supermarkt lebt. Er sagt: „Das ist ein Wahrnehmungsproblem. Hochhäuser lassen Elend, Kriminalität und schlechte Lebensbedingungen assoziieren. Natürlich gibt es hier Problemlagen, es gibt Häuser, in denen sie sich häufen. Das ist aber nur ein winziger Teil des Stadtteils. Generell herrscht ein friedliches Miteinander sehr vieler Nationen. Es gibt viele Menschen, die in funktionierenden Familienverbänden hier leben. Viele brauchen Unterstützung. Sie sind deswegen aber nicht kriminell.“

Da ist die Polizeisprecherin, die sich an Zeiten erinnern kann, als die Lüneburger Polizei eine Sonderkommission Kaltenmoor im Einsatz hatte, weil eine Gruppe meinte, den Stadtteil zu „ihrem“ Stadtteil machen zu können. Sie sagt: „Die wurden erfolgreich in ihre Schranken verwiesen. Die Soko gibt es schon lange nicht mehr. Wer die Bevölkerungsdichte in dem Stadtteil heute betrachtet, kann sagen: Im Verhältnis passiert relativ wenig. Kaltenmoor ist kein Stadtteil, in dem wir ständig präsent sind. Es ist auch kein Brennpunkt, von dem man sagt, dass man sich dort nicht auf die Straßen trauen kann.“

Und da ist Karl-Heinz Winkel, der seit drei Jahren an der Adolf-Reichwein-Straße lebt, im Nachbarhaus der Familie Karnous. Er sagt: „So was ist hier gang und gäbe. Wenn ich Unterhaltung will, setze ich mich auf meinen Balkon und warte. Willst du was erleben, komm nach Kaltenmoor. Wir selbst sind nach 16 Uhr nur zu Hause. Ich will doch nicht verprügelt werden.“

Ängste, die mit den jüngsten Verbrechen in seiner Nachbarschaft nur wenig zu tun haben können. Es waren keine Unbeteiligten, die geschlagen oder umgebracht worden sind. Es waren Verbrechen zwischen Menschen, die sich kannten. Meist seit Jahren. Als Nachbarn oder als Familie.

Die aktuelle Tat, sagt Polizeisprecherin Antje Freudenberg, „ist eine Tat, die auch in jedem anderen Stadtteil hätte passieren können. Auch in einem Villenviertel“. Denn die Polizei geht von einer Beziehungstat aus.