Ein Russland-Kenner und Abendblatt-Korrespondent in Moskau erinnert sich an die Entwicklungen nach dem Ende der Sowjetunion

Der Berliner Journalist und Buchautor Manfred Quiring zählt zu den erfahrensten Russland-Kennern der Republik. Mehr als 21 Jahre lang war er Korrespondent deutscher Zeitungen in der Sowjetunion beziehungsweise Russland. Auch für das Hamburger Abendblatt hat Quiring viele Jahre geschrieben. Der heute 66-Jährige hat das Riesenreich kreuz und quer bereist und dabei mit zahllosen Menschen gesprochen, hat mehrere Bücher verfasst und ist bis heute im intensiven Gespräch mit seinen Quellen in Moskau.

Auch Quiring nimmt teil an der Debatte um die Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der ungeachtet seines autoritären Kurses und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim bei vielen Deutschen auf Verständnis stößt. Sogar das politische Berlin ist gespalten in der Frage, wie mit Putin umzugehen sei. Russland-Kenner Quiring widerspricht der oft gehörten These, dass die Krise um die Ukraine vor allem Folge eines geostrategischen Powerplays der USA beziehungsweise der Nato sei. „45 Jahre lang herrschte Moskau über den Osten Europas, und das Ergebnis dieser sowjetischen Oberhoheit war – anders als im Westen Deutschlands, wo die amerikanische Lebensweise als angenehm empfunden und die demokratischen Institutionen nach und nach verinnerlicht wurden – aus sowjetischer Sicht verheerend“, sagt Manfred Quiring. In den osteuropäischen Staaten wuchs der Widerstand. „Die Aufstände von Berlin, Budapest und Prag sowie in Polen belegen das anschaulich.“ 1991 zerbrachen Warschauer Pakt und Sowjetunion.

Doch die russischen Eliten sehen die Ursachen für den Untergang nach Quirings Beobachtung nicht in deren eigenen Defiziten oder in der Unterdrückung Osteuropas. Schuld sei vielmehr eine Verschwörung des Westens, angeführt von den USA. In Russland herrscht die Überzeugung vor, die Nato habe sich wortbrüchig immer weiter nach Osten ausgedehnt – dies gilt als eines der Hauptmotive für Putins aggressiv antiwestlichen Kurs. Doch das Bild stimme nicht, sagt Quiring. „Es waren vielmehr die Osteuropäer selber, die, getrieben von ihren Erfahrungen mit der sowjetischen Herrschaft, in die EU und ins nordatlantische Bündnis drängten. Sie glaubten, nur so Stabilität und Sicherheit vor eventuellen großrussischen Ambitionen erlangen zu können.“ Quiring zitiert den estnischen Verteidigungsminister Sven Mikser mit dem Satz: „Es ist nicht so, dass die Nato uns angelockt hätte – wir sind nicht rekrutiert worden. Wir mussten Amerikaner und Westeuropäer sogar von unserer Entschlossenheit überzeugen.“ Für Quiring ist also das, „was gemeinhin als Nato-Osterweiterung bezeichnet wird, im Gegenteil eine Bewegung der osteuropäischen Staaten nach Westen. Im übertragenen Sinne vergleichbar mit der ‚Abstimmung mit den Füßen‘ in der DDR.“ Weder Polen noch Ungarn, Tschechen, Balten oder Slowaken hätten auch nur einen Gedanken darauf verschwendet, weiterhin im sowjetisch dominierten Warschauer Vertrag zu verbleiben. Die angeblich 1990 abgegebene „heilige Verpflichtung“ der Nato gegenüber Russland, sich nicht weiter nach Osten auszudehnen, sei ebenfalls ein Mythos – es habe sie nie gegeben, sagt Manfred Quiring. Der frühere Kremlchef Michail Gorbatschow habe 2009 in einem „Spiegel“-Interview seinen Verzicht auf eine entsprechende schriftliche Zusage mit den Worten erklärt: „Anfang 1990 bestand noch der Warschauer Pakt. Allein die Vorstellung, die Nato würde sich auf Länder dieses Bündnisses ausdehnen, klang damals vollkommen absurd.“ Andererseits habe Moskau in zahlreichen Verträgen die territoriale Integrität der Ukraine und ihre Oberhoheit über die Krim anerkannt. Nach dem russisch-georgischen Krieg von 2008 habe Putin in der ARD entrüstet die Vermutung zurückgewiesen, Russland könnte Appetit auf Teile der Ukraine entwickeln. „Russland hat vor langer Zeit die Grenzen der heutigen Ukraine anerkannt“, sagte Putin damals. Das Thema sei abgeschlossen, und ethnische Probleme auf der Krim seien eine innere Angelegenheit der Ukraine.

Abendblatt-Chefautor Thomas Frankenfeld greift an dieser Stelle jeden Donnerstag ein aktuelles Thema auf