Ein 68-Jähriger Berliner ist in St. Georg verschollen. Der alzheimerkranke Mann stieg vor mehr als zwei Wochen nahe dem Hauptbahnhof aus dem Wagen seiner Frau und lief davon. Seitdem fehlt jede Spur von ihm.

Hamburg. Ihre Verzweiflung ließ Marianne H. alle Grenzen überschreiten: Mit Dosenbier im Gepäck mischte sie sich unter die Obdachlosen am Hauptbahnhof. Sie setzte sich am Bahnhofausgang Kirchenallee zu ihnen, sprach mit den Gestrandeten an der Unterführung zum Steindamm. Immer dabei: ein Foto ihres Mannes Wolfgang.

„Ich hab gesagt, guck dir mal das Foto an, kennste den?“ Die Reaktionen waren mehr als enttäuschend, trotz der Dosen, die sie verteilte: „Man hat mich ausgelacht. Das habe ich nicht erwartet“, sagt die 63-Jährige aus Berlin-Reinickendorf resigniert. „‚Biste von der Kripo?‘, haben sie gefragt.“

Die Suche nach ihrem Mann brach Marianne H. nach zwei langen und vor allem quälenden Tagen ab. Dann fuhr sie zurück in ihr Einfamilienhaus im Norden Berlins. Seitdem wartet sie auf ein Lebenszeichen. Oder auf einen Anruf vom Berliner Landeskriminalamt, das den Fall bearbeitet. Der Fall Wolfgang H. ist kein normaler Vermisstenfall. Der 68 Jahre alte gebürtige Hamburger, der in den 70er-Jahren vor der Bundeswehr-Einberufung nach West-Berlin floh, ist schwer an Alzheimer erkrankt. Der ehemalige Bauleiter kann sein Leben nicht ohne Hilfe führen. „Jeden Tag, den mein Mann noch länger weg ist, ist für ihn ein großer Rückschritt“, sagt Marianne H. „Er braucht feste Strukturen, einen festen Rhythmus. Mit jedem neuen Eindruck verliert er noch mehr den Faden. Er ist total verwirrt.“

Es war einer der wenigen heißen Tage dieses Jahres, an dem H. verschwand. Am Nachmittag des 18. Juni – ein Dienstag – öffnet er auf der Altmannbrücke – der Verbindung zwischen Kurt-Schumacher-Allee und Steinstraße – plötzlich die Beifahrertür des Familienautos, als seine Frau an einer roten Ampel hält. Er steigt aus, läuft schnellen Schrittes zur gegenüber liegenden Straßenseite und weiter.

Am Eingang zur Mönckebergstraße taucht er in der Menschenmasse unter, die in die belebte Einkaufsstraße strömt. Mehr als zwei Wochen sind seitdem vergangen. Zwei Wochen, in denen seine Frau nicht weiß, wo er schläft, wovon er sich ernährt. „Er hat kein Geld, ist nicht richtig angezogen. Mittlerweile ist es ja deutlich kälter geworden.“

„Ich hatte keine Chance, ihm zu folgen“, sagt Marianne H. mit belegter Stimme. Die Berlinerin macht sich große Vorwürfe. Am Vortag hatte das Paar Heuers leer stehendes Elternhaus in Neugraben und den ebenfalls an Alzheimer erkrankten Bruder im Pflegeheim besucht. Am Dienstag fuhren sie zum Hafen, gingen bei schönstem Sommerwetter zwei Stunden an der Elbe spazieren. Sie kehrten im Captain´s Dinner an den St. Pauli-Landungsbrücken ein. „Wolfgang hatte gute Laune“, erinnert sich Marianne H.

Sie sind bereits auf dem Rückweg nach Berlin, als ihr Mann gegen 17 Uhr plötzlich aussteigt. „Im Stadtverkehr sitzt Wolfgang immer hinten im Auto, weil es dort eine Kindersicherung gibt.“ Weil sie aber über die Autobahn fahren wollen, lässt ihn seine Frau vorn neben sich sitzen. „Das war mein Fehler.“ Sie springt ihm hinterher. „Ich ließ mein Auto in zweiter Spur stehen, musste aber den Gegenverkehr abwarten. Ein lautes Gehupe ging los. Wolfgang rannte bis zur Ampel und schaffte es noch über die Straße in Richtung Mönckebergstraße.“ Sie wartet auf Grün, da ist ihr Mann schon nicht mehr zu sehen. „Ich rannte herum, rief laut nach Wolfgang!“

Mit einer Streifenwagen-Besatzung fährt sie die Straßen rund um den Hauptbahnhof ab, ohne Erfolg. Einmal noch glaubt sie sich ihrem Mann nah. Wegen der hohen Temperaturen, die auf beinahe 35 Grad Celsius steigen, wird ein Spürhund der Polizei erst in den kühleren Abendstunden nach 22 Uhr eingesetzt. Die Hundenasen trocknen dann nicht mehr so schnell aus. Und: Bei Hitze wäre die Spur nicht so gut zu verfolgen gewesen. Auf der Altmannbrücke schlägt der Hund an, nicht nur einmal. Eigentlich ein gutes Zeichen. Doch der 68-Jährige muss die Fahrbahn der Brücke zu diesem Zeitpunkt bereits mehrmals gekreuzt haben. Woher die Spuren kommen und wohin sie führen, können Hund und Polizei nicht nachvollziehen. Um 1 Uhr morgens wird die Suche abgebrochen.

Marianne H. gibt die Hoffnung nicht auf. Sie grast die Obdachlosenszene in der Innenstadt ab, sucht in Buxtehude, Bargteheide und Ahrensburg. „Der Nachbar des Elternhaus-Grundstücks in Neugraben ist alarmiert, falls er dort auftaucht.“ Ihre Kinder veröffentlichen Fotos ihres Vaters auf Facebook. „Mein Mann ist zu Hause in Berlin schon mehrfach weggelaufen“, sagt Marianne H. Doch er sei immer wieder schnell aufgegriffen worden. Er hat dabei schon unglaubliche Strecken zu Fuß zurückgelegt. „Einmal wurde er nach einem Tag 40 Kilometer von der Wohnung entfernt aufgegriffen.“

„Ich habe so Angst, dass Wolfgang etwas passiert ist“, sagt Marianne H. „Und dass sich dann niemand kümmert. Die Menschen sind heute so desinteressiert.“ Einmal sei ihr Mann aus dem Krankenhaus ausgerissen. „Er hatte noch ein Blutdruckmessgerät dabei und nur ein Krankenhaushemd an. Erst nach sieben Stunden ist er zurückgekehrt. In dieser Zeit hat ihn weder jemand angehalten noch die Polizei informiert.“ Marianne H. sitzt auf gepackten Koffern. In drei Stunden könne sie in Hamburg sein, sobald sie etwas höre. „Mein Mann braucht mich doch so dringend.“