Der international renommierte Plakatkünstler zeigt seine Aufsehen erregenden Arbeiten in der Freien Akademie der Künste und in der Handelskammer.

Hamburg. „Plakate sollen wie Klappmesser sein – aufspringen, sezieren und unter die Haut gehen.“ Nach diesem Prinzip hat der Hamburger Grafikkünstler Holger Matthies, 73, in den vergangenen 40 Jahren an die 1000 Plakate entworfen. Für Theatermacher wie Boy Gobert, Peter Zadek, Hans Neuenfels, für Konzertveranstalter, für Platten-Labels. In zwei Ausstellungen sind sie jetzt in Hamburg zu sehen: in der Freien Akademie der Künste ausgewählte Beispiele seiner angewandten Plakatkunst und dazu in der Handelskammer großformatige Reproduktionen seiner Ideen, die mit Köpfen und Gesichtern spielen.

Beide zeigen, warum er nicht nur einer der weltweit Produktivsten auf diesem Gebiet ist, sondern einer, der die Plakatkunst in vielen überraschenden Facetten ausleuchtet. „Immer noch zufrieden“ ist er mit seiner Berufswahl, sagt der Mann, der in Lederjacke, mit schwarzer Strickmütze und rotem Bommel das Aufhängen in der Akademie begutachtet. „Man braucht keine Galerie und keine Sektempfänge, wo die Leute mit dem Rücken zu den Arbeiten stehen und quatschen, man hat die Anschlagsäule im öffentlichen Raum.“

Einfach haben es Plakate trotzdem nicht. Sie wollen eine hoch verdichtete Botschaft über die Kunst anderer unter die Menschen bringen. Und haben nicht viel Zeit, den Betrachter zu fesseln. Es funktioniert in einer Sekunde, oder es funktioniert nicht. Den Unterschied, sagt Holger Matthies, macht die Idee.

Farblithograf hat er gelernt, bevor er an der HfBK studierte, „das war praktisch Handfotografie“; in der Druckerei macht ihm bis heute niemand etwas vor. Das Zeichnen ging ihm perfekt von der Hand, vielleicht ein Grund dafür, warum er sofort daran dachte, das Bild hinter dem Bild zu suchen, den Widerhaken zu finden, den man auswerfen muss, damit der Betrachter anbeißt.

Selbstbewusst ist Matthies. Erklärt früh dem damals jungen Konzertveranstalter Hans-Werner Funke, dass er dessen Konzerte gut, die Plakate aber abscheulich findet. So kommt man ins Geschäft. Ans Schauspielhaus holt ihn Anfang der 60er-Jahre Gründgens-Nachfolger Oskar Fritz Schuh. Bald ist er bei vielen Theatern gefragt, „ich musste praktisch nie mehr Akquise machen“.

Seine provokanten Ideen treffen ins Schwarze. Die markant strangulierte Banane, die er 1976 für Brecht/Lenz’ „Hofmeister“ am Kieler Theater entwarf – Anspielung auf die Selbstkastration der Titelfigur. Der von innen brennende Geistliche für Verdis „Don Carlos“ 1992 in Hannover, der kahle Schädel mit den beiden erigierten Gliedern als Teufelshörnern für Panizzas „Das Liebeskonzil“ 1989 für das Schiller-Theater in Berlin – heiß umstritten, am Ende ausgezeichnet mit der Goldmedaille der Internationalen Poster Biennale in Warschau. Nur einer von Dutzenden Preisen für Matthies.

Plakat-Ideen müssen sich immer neu von der vorigen absetzen, sollen das Nächstliegende vermeiden, das zu Komplizierte ebenso. „Es ist ein Ritt auf der Rasierklinge“, sagt Matthies. „Die Muse ist eine launische Dame, die küsst nicht immer.“ Er kennt schlaflose Nächte, wenn die Inspiration im Wochenrhythmus gefordert ist. „Waldspaziergänge helfen. Oder ein Abstecher ins Kaufhaus, Spielzeugabteilung.“ Wenn’s gut geht, rastet ein überraschender optischer Eindruck irgendwo in dem Ideenkonglomerat ein, das er in seinem Kopf gerade bewegt. Sein Haus mit „Inspirationsräumen“ voller Fundsachen hilft ihm auch weiter.

„Manchmal hat man gleich die eine, die einzig mögliche Idee und meint, alle müssten bei der Präsentation in Applaushypnose verfallen.“ Oft ist es aber ein langer Prozess der Ideenreduktion, bis am Ende das Motiv steht, das die Botschaft auf den klaren Punkt bringt. Eine feine Balance von offenen Assoziationen und knallhartem Handwerk.

Auch dass er immer schon politisch denkt, hilft ihm. Aus „Türken raus“ wird durch Weglassen der ersten Buchstaben in jeder neuen Zeile am Ende „aus“ – unten steht klein: „Wenn 1.523.678 Türken die Bundesrepublik verlassen, gehen in Deutschland die Lichter aus.“ Eigenauftrag 1994 heißt es dazu im Katalog. So wie die übergroße Bastelvorlage für eine Schachtel „EURO extra Alleskleber“ von 2012, „Keine Mogelpackung! Bitte falten, zusammenkleben und an Angela Merkel senden.“ Was eine ganze Reihe von Matthies-Fans auch getan haben.

Gern überschreitet er die vorgeblichen Genregrenzen: Er hat Spielzeit-Plakate gemacht, vor denen blaue Streifen wie ein Theatervorhang wehen. Hat etwa in Bochum Tütchen mit zwei Tickets vielhundertfach auf Plakate geklebt, um Leute ins Theater zu locken.

Kein Wunder, dass der Mann seit Jahrzehnten zwischen Rio und Shanghai weltweit zu den gefragten Lehrern für Plakatkunst gehört; in Berlin an der Universität der Künste hatte er seit 1994 eine C4-Professur inne. Seine Kunst wird rund um den Globus verstanden. Nur schnöder Produktwerbung hat er seinen Kopf fast durchgehend verweigert. „Für Zahnpasta, Schuhcreme oder so muss man ja Geschichten erfinden. Beim Theater sind die besten Geschichten schon da, ich muss nur noch das Bild dazu finden.“

Erweiterung des Sichtfeldes – Bilder für den Kulturbetrieb 1970 bis 2013. Freie Akademie der Künste, bis 22.12., Di–So 11–18 Uhr.

Kopf an Kopf. Helle Köpfe aus den Jahren 1970 bis 2013. Handelskammer, bis 17.1., Mo–Do 9-17, Fr 9-16