Die NDR-Doku „Geraubte Leben“, die am Sonnabend im NDR zu sehen gibt in 45 Minuten Einblick in das Grauen im Konzentrationslager Neuengamme. Die Autoren Maiken Nielsen und Jan Liebold haben zahlreiche Zeitzeugen aus allen Ländern von die Kamera geholt.

Hamburg Vergessen ist nicht möglich. Niemals. Wie könnte Raymond Gourlin vergessen, wie er nach seiner Ankunft mit 700 anderen Häftlingen in einen Keller gezwängt wurde, nackt, und stundenlang auf Kleidung warten musste. Begrüßt hatten ihn Dutzende Leichenberge. Wie könnte Dagmar Lieblová die tagelange Schwerstarbeit in den Trümmern vergessen, als sie ein junges Mädchen war. Im Winter gab es keine Handschuhe, zu essen bekam sie ohnehin nichts. Und wie könnte Jitzhak Reichenbaum den Kellerraum vergessen, in dem sein jüngerer Bruder getötet wurde, nachdem ein Arzt im KZ medizinische Versuche an ihm verübt hatte. Neuengamme kann man nicht vergessen, wenn man gezwungen wurde, eine Zeit seines Lebens in dem Hamburger KZ zu verbringen. Mehr als 100.000 Menschen waren im Nationalsozialismus hier und in den 86 Außenlagern unter mörderischen Arbeits- und Lebensbedingungen inhaftiert. Fast die Hälfte der Gefangenen überlebte den Aufenthalt nicht.

„Geraubte Leben“ haben die Autoren Maiken Nielsen und Jan Liebold ihre Dokumentation genannt, die am Sonnabend im NDR zu sehen ist, eine der ersten Fernsehdokumentationen über Neuengamme überhaupt. Zeitzeugen aus allen Ländern kommen zu Wort, denn nur etwa zehn Prozent der Häftlinge kamen aus Deutschland, die meisten wurden aus Frankreich, Russland und Osteuropa deportiert.

Menschen kommen zu Wort, die als Teenager ins KZ kamen, heute sind sie in ihren 80ern. Einige haben kaum je über das Erlebte gesprochen. Weil man ihm sowieso nicht geglaubt hätte, sagt Raymond Gourlin. Weil die Vergangenheit zu schmerzhaft ist und das Leben weitergehen muss, sagt Jitzhak Reichenbaum, der erst viele Jahre später vom Tod des Bruders erfahren hat. Aus einer israelischen Zeitung, die über die Kinder vom Bullenhuser Damm berichtete. Dagmar Lieblová dagegen hält jeden Monat Vorträge in Schulen. Worte gegen das Vergessen.

Neben den eindrucksvollen Zeitzeugen, darunter auch eine KZ-Aufseherin, die nervös ihre Hände knetet und keinerlei Unrechtbewusstsein erkennen lässt, lebt die Dokumentation von teils animierten Fotoaufnahmen und bislang ungesendeten Filmsequenzen, die Zwangsarbeiter im Außenlager Bremen-Farge zeigen. Der Film reicht von der Errichtung des KZ im Jahr 1938 auf dem Gelände einer alten Ziegelei bis zu den Neuengamme-Prozessen im Curiohaus. Es sind Szenen darunter, die man schwer wieder vergisst: bis auf die Haut abgemagerte Menschen, die Hoffnungslosigkeit in den Augen, die Schienen, auf denen die Züge ins Nirgendwo ratterten, häufig dem Tod entgegen. Vor allem aber sind es die Überlebenden, die sich ins Gedächtnis eingraben, die mehr Böses gesehen haben, als Menschen vielleicht ertragen können. Und die trotzdem irgendwann wieder Lebensmut geschöpft haben. Wie auch immer sie das angestellt haben mögen.

„Geraubte Leben“ Sa 9.11., 13.30 Uhr, NDR.

Am Dienstag 12.11., um 19 Uhr stellt Maiken Nielsen die Dokumentation im Kultwerk West vor