Offenbar haben Islamisten in London einen Soldaten mit Messer und einem Hackbeil auf der Straße getötet. Vor dem Champions-League-Finale herrscht Terrorangst.

Während der Morgen graut an diesem trüben Donnerstag im späten Mai, steigt auch das Grauen der Londoner über den jüngsten Mord in ihrer an Gewalttaten nicht armen Hauptstadt.

Polizei und die politisch Verantwortlichen sprechen von einem Terrorakt mit islamistischem Hintergrund; doch die Umstände liegen abseits ähnlicher Verbrechensmuster und stellen die Fahnder vor das Rätsel einer ungewöhnlichen Untat.

Es geschah am helllichten Nachmittag des Mittwoch im südöstlichen Stadtteil Woolwich, als zwei schwarze Männer ein blaues Fahrzeug auf den Bürgersteig steuerten, dabei einen jungen, etwa 20-jährigen Mann anfuhren, um ihn, als sie herausgesprungen waren, wie im ritualistischen Rausch zu überfallen.

Mit Messer und einem Hackbeil bewaffnet, stürzten sie sich auf ihr Opfer und schlachteten es mit den Worten "Allahu Akbar"-Rufen ("Gott ist groß") vor den Augen entsetzter Passanten regelrecht ab. Dann zogen sie die Leiche in die Mitte der Straße, die John Wilson Street, eine blutige Spur zurücklassend.

Täter lassen sich fotografieren

Was dann geschah, gleicht mehr einer bizarren Traumsequenz als einer realen Szene: Die beiden Täter, ihre Hände blutig beschmiert, dabei mit Hackbeil, Messern und einem Revolver herumfuchtelnd, rennen keineswegs davon, sondern bleiben am Ort ihrer Tat, sprechen mit Passanten, lassen sich fotografieren und ergehen sich in politischer Propaganda zur Verteidigung ihrer Untat.

Ein Bus kommt vorbei, hält, und aus der geöffneten Tür nimmt ein Passagier einen der laut schimpfenden Verbrecher per Mobilkamera auf.

Der Film läuft seitdem in regelmäßigen Abständen im britischen Fernsehen und schockiert inzwischen auch die globale Internetgemeinde. Fleischerbeil und Messer in der linken blutigen Hand, erhebt der Mann die rechte, ebenfalls gezeichnet von den Spuren der Tat, und lässt wild gestikulierend seine Botschaft los, im klassischen Akzent eines Londoner Cockney.

"Auge um Auge, Zahn um Zahn"

"Wir müssen sie bekämpfen, wie sie uns bekämpfen", schreit er, "Auge um Auge, Zahn um Zahn." Dann trägt er eine makabre Entschuldigung vor: "Es tut mir leid, dass auch Frauen heute mit zu Zeugen wurden; aber in unserem Land müssen unsere Frauen solches ebenfalls mit ansehen. Ihr Leute werdet niemals sicher sein. Beseitigt eure Regierung, sie kümmert sich nicht um euch."

Es dauerte quälende Minuten, ehe örtliche unbewaffnete Polizeistreifen bewaffnete Kollegen vom Terror-Dezernat von Scotland Yard zu Hilfe holten, die schließlich durch gezielte Schüsse die beiden Täter niederstreckten, aber nicht tödlich. Ein Rettungshubschrauber und ein Krankenwagen transportierten sie schließlich zu getrennten Hospitälern in die weitere Umgebung.

Erste Angaben, wonach es sich bei dem Ermordeten um einen Soldaten aus der nahe gelegenen Woolwich Kaserne handeln soll, harren noch offizieller Bestätigung. Doch steht diese Frage in Wahrheit außer Zweifel. Der junge Mann trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Help for Heroes", dem Namen einer wohltätigen Organisation, die sich um in Afghanistan und im Irak verwundete Militärs kümmert.

Öffentlichkeit und Ruhm durch Tat

Als Zielscheibe für ein islamistisch gefärbtes Verbrechen schien der Soldat – er trug zum Zeitpunkt der Ermordung keine Uniform – wie prädestiniert. Damit ist aber noch nicht beantwortet, wer die Täter motiviert und angestiftet hat, oder ob sie aus eigenem Antrieb gehandelt haben, verbissen in ihre Ideologie wie die beiden Terroristen des Anschlags während des Boston Marathonlaufs.

Vollkommen unerklärlich ist ihr Verhalten nach dem Mord. Etliche Zeugen bekräftigten den Eindruck, die Täter wollten sich augenscheinlich gefangen nehmen lassen – oder rechneten sie damit, erschossen zu werden? In jedem Fall ein nach antikem Vorbild herostratischer Akt: Öffentlichkeit und Ruhm zu erlangen durch die verruchte Tat. Und, natürlich, Belohnung im Jenseits.

Nach bisher unbestätigten Berichten soll einer der beiden Täter aus Nigeria stammen und den Behörden schon früher aufgefallen sein, in bisher nicht erklärtem Kontext. Der Satz "Wir müssen sie bekämpfen, wie sie uns bekämpfen", sowie der Hinweis auf "unsere Frauen" bleibt dabei mysteriös, kann sich kaum auf ein Land wie Nigeria beziehen, wo der Westen an keinem Krieg beteiligt ist – dagegen findet ein blutiger Untergrundkampf statt gegen christliche Gruppen.

Mord im Namen des Islam

Kenner der terroristischen Szene gehen eher davon aus, dass die Täter sich im Prozess ihrer Radikalisierung solidarisch erklärt haben mit allen Muslimen in Ländern, in denen der Westen im Einsatz ist zur Stabilisierung der Lage, etwa in Afghanistan. Dass mithin Wörter wie "unser" und "wir" auf die weltweite Familie der sich unterdrückt fühlenden Islamisten hinweist, in deren Namen es tugendhaft ist, zu morden.

Auf jeden Fall stellt das Verbrechen in Londons Stadtteil Woolwich seit dem Juli 2005 das erste fundamentalistische Attentat auf britischem Boden dar. Damals waren 52 Menschen bei mehreren Anschlägen im Londoner U-Bahn- und Bus-Netz ums Leben gekommen. Mehrere Komplotte mit ähnlichem Hintergrund konnten allerdings seitdem vereitelt werden, weil die Kommunikation unter den vermeintlichen Tätern eine digitale Datenspur hinterließ, die letztlich zur Enttarnung führte.

Nichts davon liegt im jüngsten Fall vor, der Tat gingen keine aufspürbaren terroristischen Vorbereitungen voraus, und offensichtlich auch keine besonders auffallende Kommunikationsspur. Einzeltäter aus privatem Milieu lassen sich nur schwer frühzeitig erkennen, Prävention ist entsprechend schwierig.

Cameron übernimmt selbst die Leitung

In Woolwich und anderen Londoner Stadtteilen steht die Polizei in der nächsten Zeit in erhöhter Alarmbereitschaft. Auch, weil als Reaktion auf den Terrorakt Racheaktionen befürchtet werden. Wie ein Abgeordneter auf Twitter berichtete, wurde ein 43-Jähriger festgenommen, als er mit einem Messer in eine Londoner Moschee eindrang. Ein zweiter Mann wurde wegen des Verdachts auf rassistisch motivierte Sachbeschädigung im Südosten Englands festgenommen.

Wie ernst auch die Regierung den jüngsten Vorfall nimmt, zeigte sich daran, dass noch am Mittwochabend der "Cobra" genannte Ministerausschuss zur Behandlung von Terror-Vorfällen zusammentrat.

Premierminister Cameron kehrte frühzeitig von einem Besuch bei Präsident Hollande in Paris heim, um am Donnerstag früh selber die "Cobra"-Leitung zu übernehmen. Er nannte die Tat ein "höchst erschreckendes Verbrechen", während der Chef von Scotland Yard, Commissioner Bernard Hogen-Howe, es als "einen widerlichen und barbarischen Angriff" bezeichnete.