Die Ermordung von Boris Nemzow könnte Russlands Opposition neuen Schub geben.

Einige Monate vor ihrem Tod besuchte die prominenteste Regimekritikerin Russlands, die unerschrockene Journalistin Anna Politkowskaja, das Hamburger Abendblatt. In einer Zeit, als Wladimir Putin weithin noch als tatkräftiger Retter seines Landes galt, warnte sie vor einer Atmosphäre der Angst und Repression in ihrem Land, vor einem diktatorischen System Putin, das sich abzeichne. Am 7. Oktober 2006 wurde sie in ihrem Wohnhaus erschossen. Es war ein Auftragsmord, dessen Hintermänner nie gefasst wurden.

Seitdem sind zahlreiche Männer und Frauen, die sich gegen Putin gestellt haben, entweder ermordet oder durch ein willfähriges Justizsystem kaltgestellt worden. Schritt für Schritt hat Wladimir Putin die Opposition in Russland enthauptet. Es läge nahe, die Ermordung des früheren Vizepremiers Boris Nemzow ebenfalls dem neuen Zaren anzulasten. Immerhin hat Nemzow mit klaren Worten die russische Aggression in der Ukraine verurteilt. Und es dürfte kaum Zufall sein, dass der charismatische Politiker am 27. Februar ermordet wurde. An diesem Tag des vergangenen Jahres übernahm die russische Armee die Macht auf der Krim – und er soll künftig als Feiertag begangen werden. Nun ist dieser Tag unauflösbar mit dem heimtückischen Mord an Boris Nemzow verbunden.

Über Putins geistige Verfassung und seine mögliche Bereitschaft zur Konfrontation mit dem Westen ist in letzter Zeit viel diskutiert worden. Natürlich wirken seine Beileidsbekundungen an Familie und Freunde Nemzows zynisch, doch muss man nun die Frage stellen, ob Putin, dieser mit allen Wassern gewaschene Machtpolitiker, tatsächlich in einer international derart angespannten Lage den Auftrag zur Ermordung des profiliertesten Oppositionellen erteilen würde – und dies auch noch wenige Schritte vom Kreml entfernt. Angeblich hatte Nemzow an einem Report gearbeitet, der die direkte russische Beteiligung am Angriff auf die ukrainische Armee beweisen sollte. Doch auch das wäre für Putin kaum Grund genug, ein so hohes politisches Risiko einzugehen; zumal die massive Verstrickung der russischen Streitkräfte in den ukrainischen Bürgerkrieg bereits hinreichend dokumentiert ist.

Das Attentat auf Boris Nemzow wurde offenbar minutiös geplant. Jemand wusste im Voraus – vermutlich durch eine Abhöraktion – welchen Weg er mit seiner Begleiterin nehmen würde. Dass die Tatwaffe eine Makarow-Pistole war, wie sie Militär und Polizei in Russland verwenden, ist jedenfalls kein Beweis. Diese Waffe ist seit 1952 produziert worden und millionenfach im Umlauf. Nemzow war gegenwärtig für Putin, der von einer nationalistischen Welle zu höchsten Zustimmungsraten getragen wird, keine Bedrohung. Sein Tod könnte es schon eher werden. Zum einen stellt er die Opposition vor die Entscheidung, endgültig in einer Duldungsstarre zu verharren oder sich gegen das despotische System Putin aufzubäumen.

Zum anderen aber ist Putin international nun endgültig als Führer eines Landes gebranntmarkt, in dem Oppositionelle ihres Lebens nicht sicher sind. Falls Putin den Mord befohlen haben sollte, dann hätte er sich damit außerhalb jeder zivilisatorischen Regeln gestellt. Und würde zum Paria der internationalen Staatengemeinschaft. Aber falls er mit dem Attentat direkt gar nichts zu tun hat, dann würde dies im Umkehrschluss bedeuten, dass der neue Zar sein Land nicht mehr im Griff hat.

Freisprechen von einer Verantwortung für derartige Bluttaten kann man Putin in jedem Fall nicht. Der frühere KGB-Agent hat die Wiederaufrichtung der geknickten russischen Seele nach dem schmählichen Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Chaos der Jelzin-Zeit auch mittels einer hoch aggressiven Propaganda betrieben, zu deren Elementen glühender Nationalismus und Hass auf die westliche Kultur gehören. Kritiker seines antidemokratischen und großrussischen Kurses fallen hierbei schnell in die lebensgefährliche Kategorie vogelfreier Vaterlandsverräter.