Der Union geht es schlechter, als es die Umfragen vermuten lassen. Hinter Angela Merkel mangelt es an Persönlichkeiten

Man stelle sich vor, die Linkspartei würde im aktuellen Hamburger Wahlkampf einen gewissen Roland Claus als Zugpferd einladen. Die SPD einen Herrn namens Ludwig Stiegler. Oder die Grünen Frau Kerstin Müller. Vermutlich wären die Spitzenkandidaten schon froh, wenn sie diese einstigen Politikgrößen überhaupt erkennen, die um die Jahrtausendwende Fraktionschef im Bundestag waren. Es zeigt sich, was 15 Jahre – mithin nur eine halbe Generation – in Parteien verändern kann. Neue Gesichter kommen, die alten geraten in Vergessenheit, so ist der Gang der politischen Dinge.

Nicht so bei der Union: Drei ehemalige CDU-Senatoren hatten in der vergangenen Woche zum Mittagstreff Unterstützer für Dietrich Wersich eingeladen und ebenfalls auf einen Fraktionschef der Jahrtausendwende gesetzt. Das Interesse war überwältigend, die Gästeliste hätte so manchen Eventmanager neidisch gemacht. Friedrich Merz, von 2000 bis 2002 Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zieht noch immer. Zwar ist der hochgewachsene Sauerländer schon seit 2004 ohne wichtiges Amt in der Partei, seit 2009 nicht einmal mehr im Bundestag, aber er bedient eine tiefe Sehnsucht bei vielen Christdemokraten – ihre Sehnsucht nach Liberalität in Wirtschaftsfragen und konservativen Werten in Gesellschaftsdebatten. Kurzum – er verkörpert für viele den „Anti-Merkel“. Und je weiter die vermeintlich guten alten Zeiten der Union zurückliegen, umso größer erstrahlt im Rückblick der wortgewaltige Friedrich Merz.

Die Union hat derzeit ein paradoxes Problem: In Umfragen liegt sie wie festgenagelt bei über 40 Prozent, die SPD weit abgeschlagen bei rund einem Viertel der Wähler. Viele langjährige Unions-Mitglieder hingegen fremdeln immer stärker mit dem Kurs der Merkel-Union. Die Sozialdemokratisierung der Partei sind sie mangels Alternativen oft widerwillig mitgegangen, ihre Kehrtwende in der Einwanderungspolitik aber verstehen die Anhänger der alten Kohl-/Dregger-/Strauß-Union längst nicht mehr. Der Satz der Kanzlerin „Der Islam gehört zu Deutschland“ hat sogar in der Partei ein unüberhörbares Grollen ausgelöst. Sogar ihr treu ergebener CDU-Fraktionschef Volker Kauder ging – passenderweise im Bonner Hotel „Kanzler“ – auf Distanz. Und Erika Steinbach, eine der wenigen verbliebenen Partei-Rechten, ist überzeugt, „zwei Drittel der Unions-Fraktion“ teilten das Islam-Bekenntnis der Kanzlerin nicht.

Machtpolitisch hat sich der Kurs der Kanzlerin für die Union bislang ausbezahlt: Das Land hat sich verändert, die alten Gewissheiten der Bonner Republik haben in der Berliner Republik ihre Gültigkeit verloren. Mit einem konservativeren Kurs würde die Zustimmung in der Mitte dramatisch schnell schmelzen. Und doch birgt Merkels Kurs Gefahren – er erinnert an die Situation von Gerhard Schröder nach der Agenda 2010. Dessen Reformen hielt das Land für richtig, die Partei zog murrend mit – bis Oskar Lafontaine kam. Er trat 2005 aus der SPD aus, der WASG bei und schmiedete aus ihr mit der PDS die Linkspartei. Seitdem fehlt den Sozialdemokraten auf Bundesebene jede Chance auf eine eigene Mehrheit. Nun kann sich Angela Merkel trösten, dass in der Union kein Oskar Lafontaine in Sicht ist. Friedrich Merz ist es nicht – er gab sich am Mittwoch in Hamburg rhetorisch gewandt, aber inhaltlich zahm. Kritik an seiner Nachfolgerin an der Spitze dosierte er in homöopathischen Dosen, stattdessen sprach er lieber über das transatlantische Verhältnis und das Freihandelsabkommen TTIP. Seit 2014 hat er sogar wieder ein kleines Amt inne – als Mitglied der CDU-Parteikommission „Zusammenhalt stärken – Zukunft der Bürgergesellschaft gestalten“.

Vielleicht spekuliert der 59-Jährige schon auf die Zeit nach Angela Merkel, die aber noch auf sich warten lassen dürfte. Auf der einen Seite zeigt sich die Kanzlerin, 60, wenig amtsmüde, auf der anderen Seite aber entzaubern sich die wenigen potenziellen Nachfolger wie Thomas de Maizière und Ursula von der Leyen in ihren mühsamen Ressorts.

Wer immer eines Tages die Union führen soll, er muss nicht nur in die großen Schuhe der Vorgängerin schlüpfen, sondern auch eine Partei führen, die inhaltlich gespalten und politisch verunsichert ist. Die CDU sollte die derzeitigen Umfrage-Ergebnisse genießen, sie könnten schon bald Geschichte sein.