…bleibt Ihnen überlassen. Über den Unsinn, die übertragene Bedeutung in die Rechtschreibung einzuführen

Wenn zu meiner Zeit ein Lehrer zum Unterrichtsbeginn in die Klasse trat, durften wir nicht sitzen bleiben, sondern standen selbst als Oberprimaner auf, um ihn stehend zu begrüßen. Das geboten Respekt und Anstand. Als ich nun in der Redaktion bei Müttern und Vätern herumfragte, ob das auch heute in der Schule noch der Fall sei, erntete ich ungläubige Heiterkeit. Damals mussten wir mit zwei Fünfen in den Hauptfächern sitzenbleiben, da halfen kein Elternaufstand, keine Schulpsychologin und nicht einmal eine Klage vor dem Verwaltungsgericht.

Allerdings sollten wir in der Rechtschreibung unterscheiden, ob wir sitzen blieben, also den Hintern nicht hochbekamen, oder sitzenblieben, was bedeutete, am Ende des Schuljahres nicht versetzt zu werden. Blieben wir auf dem Stuhl hocken, so hatten wir es mit der wörtlichen Bedeutung des Verbs zu tun, mussten wir die Klasse jedoch wiederholen, so bekam das Sitzenbleiben eine übertragene Bedeutung. Eine solche „Ehrenrunde“ wurde nicht nur im Sitzen abgewickelt, sondern war durchaus schon einmal mit Hausarrest oder Taschengeldentzug verbunden.

Diesen ganzen Bedeutungshintergrund sollte kennen, wer entscheiden musste, ob sitzen bleiben oder sitzenbleiben getrennt oder zusammengeschrieben werden musste. Das konnte aber nur derjenige, der Deutsch als Muttersprache nicht nur beherrschte, sondern auch fühlte, der also jeden Satz als Teil eines sprachlichen Kunstwerks begriff. Wie sollte aber jemand, der Deutsch lernte oder Deutsch gar als Fremdsprache lernte, den Unterschied zwischen der wörtlichen und der übertragenen Bedeutung ergründen können? Diese unsägliche Regel aus dem Jahre 1901 war ein Hindernis für die Verbreitung der deutschen Sprache. Die wenigen, die diese Regel einwandfrei beherrschten, brauchten kein Deutsch mehr zu lernen. Die konnten es schon.

Insofern war es eine der wichtigsten Taten der Rechtschreibreformer zu bestimmen, Verb und Verb seien immer getrennt zu schreiben. Immer! 1998 schrieb man in den Schulen demnach schwimmen gehen, sprechen lernen, spazieren fahren, lesen üben und sogar kennen lernen, stehen lassen oder liegen bleiben. Diese Regel war eine enorme Erleichterung der Rechtschreibung. Die Schüler übernahmen sie ohne Schwierigkeiten, und wer dagegen an moserte, versuchte meistens nur zu kaschieren, dass er bereits die alte Schreibweise nicht beherrscht hatte.

Nun gibt es in Deutschland jedoch keine Reform, die Lobbyisten, Schriftsteller, Vorstandsvorsitzende oder Erlanger Professoren nicht noch einmal zu reformieren trachteten. 2004 trat der bunt zusammengewürfelte Rat für deutsche Rechtschreibung auf die Bildfläche, den „Unrat“ zu nennen ich mir nicht abgewöhnen kann, und machte das, was klar und einfach war, wieder kompliziert. Bei der Wortgruppe Verb und Verb wurde die übertragene Bedeutung erneut ausgegraben. Das ist widersinnig, denn wenn wir den Kontext eines Satzes benötigen, um die Schreibweise des Verbs festzulegen, brauchen wir keine unterschiedliche Schreibweise, um den Sinn zu ergründen.

Glücklicherweise konnte der in sich tödlich zerstrittene Rat aus Zeitmangel keinen größeren Flurschaden anrichten und konzentrierte sich deshalb auf die Verben bleiben und lassen, bei denen er die Notwendigkeit der übertragenen Bedeutung erkannt zu haben glaubte. Seit 2006 ist es also wieder ein Unterschied, ob wir den Sohn bis Mittag im Bett liegen lassen oder die Arbeit liegenlassen (nicht erledigen) bzw. ob wir sitzen bleiben (auf dem Stuhl) oder sitzenbleiben (nicht versetzt werden).

Geradezu orthografisch vergewaltigt wurde das Verb kennenlernen, das als Ausnahme von jeder Regel zusammengeschrieben werden sollte, weil es sich um einen einzigen Vorgang handele. Sicherlich wird es jeder englische Deutschschüler sofort einsehen, dass bei schwimmen lernen zwei Tätigkeiten, bei kennen lernen aber nur eine im Spiel ist …

Zum Schluss die gute Nachricht: Die Reform der Reform von 2006 setzte die Reform von 1998 nicht außer Kraft. Seitdem gibt es die Fülle der fakultativen Schreibweisen, die zwar die Einheitlichkeit gefährdet, Ihnen aber die Wahl lässt. Sie können Ihren Nachbarn also kennenlernen oder kennen lernen, ganz wie Sie wollen.