Die Partei hat dazugelernt. Und doch steht sie erst am Anfang neuer Handlungsfähigkeit

Die Grünen leiden unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das Trauma trägt einen Titel: „Veggie Day“. Vor mehr als einem Jahr rief die Partei im Hauen und Stechen um Wählerstimmen den fleischfreien Kantinentag aus. Jeder weiß, dass es gar nicht schlecht ist, weniger tote Tiere zu essen. Gut für die eigene Gesundheit, gut für die Tiere sowieso, aber auch gut für die CO2-Bilanz, die noch immer durch die Massentierhaltung in die Höhe getrieben wird. Nicht der Inhalt der Forderung sorgte für Empörung, es war die Verbotsrhetorik einer vermeintlich allwissenden Partei, die ihre Politik zu einem vermeintlich unmündigen Bürger herabkommandierte. Es folgten ein mieses Wahlergebnis, ein blasses neues Führungsquartett und Streit über Verteilungsgerechtigkeit, Asylpolitik und Waffenlieferungen.

Für die Grünen steht derzeit viel auf dem Spiel. Die Bundesdelegiertenkonferenz in der Hamburger Sporthalle an diesem Wochenende sollte wirken wie eine Familientherapie nach diesem Trauma. Lieber nicht wieder zerstreiten – Selbstbeherrschung als Mantra. Tatsächlich ist es der Partei gelungen, der Veggie-Rhetorik ein konstruktives Programm einer „grünen Agrarpolitik“ entgegenzusetzen. Nach der Energiewende trägt die Partei eine neue Wende nach außen: die Agrarwende, die sowohl für sichere und gesunde Lebensmittel sorgen, genauso aber Tierschutz und Klimaschutz voranbringen soll. Das Thema Ernährung ist für die Wähler greifbar und im Alltag relevant. Die Skandale der Massentierhaltung rufen nach grünen Kernkompetenzen, wo sowohl Union als auch SPD bisher wenig Handlungsfähigkeit bewiesen haben. In sechs Bundesländern stellen die Grünen den Landwirtschaftsminister. Sogar soziale Forderungen nach fairen Löhnen für Arbeiter in industriellen Schlachthöfen kann die Partei mit dem Ziel der Agrarwende vereinen.

Und so ist einer der Gewinner des Parteitags in Hamburg der Fraktionschef Anton Hofreiter. Die Grünen im Bundestag sorgten sich lange um den jungen Nachfolger des politischen Schwergewichts Jürgen Trittin. Zu zahm, zu unerfahren. Mit der Agrarwende hat Hofreiter seine Marke gefunden. Trittin vermissten in Hamburg nur wenige Grüne. Einen „Veggie Day“ lehnten die Parteimitglieder ab.

Zu den Gewinnern zählt auch der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann. Nach der Rechtfertigung seiner umstrittenen Zustimmung zum Asylgesetz der Bundesregierung im Bundesrat erhielt er lange Applaus, einige Delegierte klatschten gar stehend. Kretschmann überzeugte vor allem mit einem Satz: „Nur wer Kompromisse macht, kann auch von anderen welche erwarten.“ Es ist eine Sprache, die nicht nach grünem Fundamentalismus klingt. Der Applaus vieler Mitglieder zeigt ein gewachsenes Verständnis der grünen Basis für die Komplexität des Regierens.

Für die Grünen sollte der Parteitag die klaffenden Fronten zwischen den Lagern, aber auch die Meinungsverschiedenheiten quer durch die Lager schließen. Das ist gelungen. Für den Moment jedenfalls. Die Parteiführung sitzt fester im Sattel. Vorerst jedenfalls. Doch der Parteitag hinterlässt Zweifel. Die Debatte um die Waffenlieferungen an die Kurden im Kampf gegen die Terrorgruppe Islamischer Staat hat gezeigt, wie stark die Fronten innerhalb der Grünen noch verlaufen. Die Hälfte stimmte dafür, die andere dagegen. Zudem erklärte Parteichef Cem Özdemir die Grünen kurzerhand zur „Freiheitspartei“, und Kretschmann forderte weniger Wirtschaftsfeindlichkeit von seiner Partei. Doch sowohl Özdemir als auch Kretschmann gaben der Öffentlichkeit in ihren Reden keine Antworten auf Fragen zur Steuerpolitik und Arbeitsmarktpolitik der Grünen. Der Parteitag in Hamburg war vor allem eines: grüne Traumatherapie.