Gewaltaufrufe neben Friedensappellen: Warum das Heilige Buch der Muslime eine verbindliche Auslegung so schwierig macht

Aussagen militanter deutscher Salafisten gegenüber Medien lassen das Blut gefrieren. So sagte einer, er würde nicht zögern, seine Familie zu ermorden, sollte sie sich gegen die Miliz Islamischer Staat (IS) stellen. Immer wieder argumentieren Salafisten, sie wollten nur wörtlich umsetzen, was der Koran verlange. Moderate Muslime hingegen verweisen auf den friedvollen und mildtätigen Charakter des Koran. Das Problem ist, das beide recht haben.

Der Koran wimmelt von Gewaltaufrufen ebenso wie von Bekenntnissen zum Frieden. Letztere sind nun nicht problematisch, Erstere schon. Ob es die 9. Sure ist, die berüchtigte Schwertsure, in deren 5. Vers es heißt: „Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Ungläubigen, wo ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf!“ Eine ganz ähnliche Formulierung findet sich in Sure 2. Die 5. Sure fordert dazu auf, niemals Freundschaft mit Christen und Juden zu schließen; die 8. dazu, gegen die Ungläubigen zu kämpfen, bis die ganze Welt sich zum Islam bekannt habe. Die 47. Sure schließlich verlangt gar, ein Gemetzel unter den Ungläubigen anzurichten und die Überlebenden zu fesseln und in Ketten zu legen.

Der Salafismus fordert – dies ist auch die Bedeutung des Wortes – eine geistige Rückbesinnung auf die Zeit der „Altvorderen“ im Islam und bezieht sich dabei vor allem auf die ersten drei Generationen, die den Propheten Mohammed noch kannten oder zumindest seine Nachfolger. Der Koran wurde der religiösen Überlieferung nach in einem Zeitraum von mehr als 20 Jahren dem Propheten durch den Erzengel Gabriel übermittelt. Mohammed war Analphabet; was er etwa ab dem Jahr 610 berichtete, wurde von seinen Anhängern hier und dort notiert und erst 20 Jahre nach seinem Tod im Jahre 632 zusammenhängend niedergeschrieben.

Der Koran spiegelt also naturgemäß die prekäre Lage der Muslime im siebten Jahrhundert im heutigen Saudi-Arabien wider. Die Gewaltaufrufe beziehen sich auf die kriegerische Situation, in der Mohammed und seine Anhänger damals lebten. Der Koran insgesamt wie auch die Hadithe, die Überlieferungen über das Leben des Propheten, stellen jedoch zugleich ein einzigartiges Gesetzeswerk für ein Zeitalter des nahezu permanenten Krieges dar. Der Koran stellte Frieden her – allerdings nur für die Muslime untereinander. Aber auch die Passagen zur Rolle der Frau sind für die damalige Zeit geradezu emanzipatorisch, da sie zum ersten Mal auch Rechte der Frau festlegten. Das Problem aus heutiger westlicher Sicht ist, dass der Koran, anders als die Bibel, als das unmittelbare Wort Gottes gilt. Die 114 Suren sind damit für alle Zeit unveränderlich.

Eine historisch-kritische Auslegung (Exegese) ist damit nicht möglich; eine Redigierung des Koran schon gar nicht. Jene Passagen, die eine ständige Kampfbereitschaft einer anfangs kleinen Schar von Muslimen in einer Welt von Feinden vor 1400 Jahren fordern, können also heute nicht entschärft werden und liefern weiter Munition für militante Islamisten. Dem Islam fehlt der dramatische Umbruch der europäischen Aufklärung, die den westlichen Menschen von religiösen Dogmen befreit hat und ihn geradezu verpflichtet, alles einer kritischen Betrachtung zu unterziehen.

Zudem fehlen vor allem im sunnitischen Islam Zentralinstanzen, vergleichbar einem Papst, der allen Gläubigen verbindliche Richtlinien erteilen kann. Die überwältigende Mehrheit der gemäßigten Muslime ignoriert heute die Gewaltpassagen im Koran oder entschärft sie durch Interpretationen. Militante picken sie sich heraus. Doch eines ist klar: Gräueltaten an Nichtkombattanten, Frauen und Kindern zumal, wie sie die Terrormiliz IS oder die nigerianische Miliz Boko Haram im angeblichen Namen Allahs begehen, sind weder durch den Koran noch durch die Hadithe gedeckt. Und die Intoleranz der Salafisten verstößt gegen jene Kultur des Wissens, die den Islam gerade in den frühen Jahrhunderten auszeichnete und ihn bezüglich wissenschaftlicher Errungenschaften dem Westen damals weit überlegen machte.