Die Ukraine hat den Westen gewählt. Aber der Weg nach Europa ist noch lang

Die Vorsitzenden der beiden stärksten Parteien in der Ukraine, das haben die Parlamentswahlen ergeben, sind praktischerweise der amtierende Präsident und der amtierende Ministerpräsident. Es spricht also manches dafür, dass Petro Poroschenko und Arsenij Jazenjuk weiterhin im Amt bleiben können. Das ungleiche Gespann an der Spitze des zweitgrößten Flächenlandes Europas wird allerdings nicht gerade durch eine enge Freundschaft verbunden. Argwöhnisch verfolgt der Präsident den steilen Aufstieg des politisch erfahrenen Jazenjuk, dem aber trotz seiner gewichtigen Ämter – unter anderem war er Chef der Nationalbank, Wirtschafts- und Außenminister sowie Parlamentspräsident – noch niemand den Vorwurf gemacht hat, übermäßig charismatisch zu sein. Und während Poroschenko nach Europa drängt, ist Jazenjuk eher ein Mann der USA.

Doch das Entscheidende ist, dass beide einen prowestlichen Kurs verfolgen. Rechnet man kleinere Parteien wie „Selbsthilfe“, „Freiheit“ und „Vaterland“ hinzu, so kann man bilanzieren, dass fast Dreiviertel der Ukrainer an der Urne für einen prowestlichen Kurs votiert haben. Umgekehrt ist bedeutsam, dass die gefürchteten Rechtsextremen bei den Wahlen durch den Rost gefallen sind. Damit ist das fadenscheinige Kriegsargument des russischen Präsidenten Wladimir Putin und der prorussischen Separatisten in der Ostukraine, in Kiew herrsche eine Faschistenclique, machtvoll entkräftet.

Die Separatisten, die in den von ihnen beherrschten Gebieten Schreckensregime errichtet und offenbar Wahlwillige mit Drohungen daran gehindert haben, sich zu beteiligen, fühlten sich politisch wohl zu unsicher, um sich einer fairen Abstimmung zu stellen. Unabhängig von parteipolitischen Grabenkämpfen und dem zu erwartenden Tauziehen um Posten steht das Votum der Ukraine für den Westen fest. Dennoch dürfen die EU und vor allem die Nato nun nichts überstürzen. Die Ukraine hat zweifellos Reife gezeigt. Doch das Land hat noch einen langen Weg nach Europa vor sich. Vor allem in der Bekämpfung der Korruption und der Macht der Oligarchen muss erst Herkulisches geleistet werden, um die Ukraine in die EU zu führen. Die Europäische Union sollte nun zwar enge Bindungen zur Ukraine knüpfen und ihre politische Konsolidierung nach Kräften unterstützen. Eine Aufnahme jedoch steht noch in weiter Ferne; die EU hat ohnehin schon genug Probleme aufgrund der überhasteten Aufnahme einiger mangelbehafteter Staaten.

Eine Nato-Mitgliedschaft, wie sie auch Jazenjuk schon einmal vorgeschwebt hat, sollte zumindest mittelfristig nicht auf der westlichen Agenda stehen. Noch wird im Osten der Ukraine gekämpft; die Region ist weiterhin Bürgerkriegsgebiet. Zwar hat die Ukraine das Recht, sich für die Mitgliedschaft in einer Militärallianz zu entscheiden; auch darf der Nato niemand vorschreiben, wen sie aufzunehmen hat. Doch die Allianz hat schon einmal den Fehler gemacht, russische Empfindlichkeiten total zu ignorieren.

Es gilt nach wie vor die Erkenntnis, dass eine stabile Sicherheitspolitik für Europa kaum ohne Russland und gar nicht gegen Russland zu etablieren ist. Das gilt leider auch angesichts eines ultranationalistischen Regimes, das vor Aggression und Bruch des Völkerrechts nicht zurückschreckt. Der künftige Westkurs der Ukraine wie auch der Ukraine-Kurs des Westens darf ein klares Ziel haben; er darf nur nicht kurzatmig und brachial sein. Jazenjuks Partei „Volksfront“ muss sich ihre bisweilen martialische Rhetorik abgewöhnen. Wichtig ist zudem, dass Kiew die Kriegsverbrechen der eigenen Truppen ahndet – auch, um sich von den Separatisten abzusetzen. Die Ukraine ist ein Sanierungsfall, gehört aber politisch wie sicherheitspolitisch zu Europa. Allerdings gilt dies eben auch für Russland.