Das europäisch-amerikanische Gesellschaftsmodell sei gescheitert, behaupten Politologen. Aber die Alternative ist mehr als fragwürdig

Der in London lebende indische Autor Pankaj Mishra ist kein unumstrittener, aber ein unbestritten kluger Mann. Er war unter anderem Gastprofessor am Wellesley College nahe Boston und Gastdozent am University College in London. Im März hatte er den „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung“ erhalten. Für die prominente deutschtürkische Sozialwissenschaftlerin und Buchautorin Necla Kelek eine Fehlentscheidung; denn Mishras prämierter Großessay „Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“ zeige nicht, wie die Leipziger Jury lobte, einen „nicht europäischen Blick“ auf den Westen, sondern einen „anti-europäischen“. Er kritisiere die ausbeuterische Kolonialvergangenheit des Westens scharf, aber ignoriere zum Beispiel die Tyrannei der Osmanen, die Despotie der indischen Mogule oder auch die Millionen Toten der Herrschaft Mao Tsetungs in China.

Nun hat Pankaj Mishra im Londoner „Guardian“ nachgelegt. Unter der Überschrift „Das westliche Modell ist zerbrochen“ fragt Mishra angesichts der Machtlosigkeit des Westens in den Krisen in der Ukraine und im Mittleren Osten, warum er eigentlich immer noch den „verderblichen Mythos“ predige, dass sich jede Gesellschaft der Erde entlang westlicher Richtlinien entwickeln müsse. Er zitiert den einflussreichen amerikanischen Theologen und Politologen Reinhold Niebuhr (1892–1971), der den „faden Fanatikern der westlichen Zivilisation“ vorgeworfen habe, sie betrachteten die „hochgradig anfälligen Errungenschaften unserer Kultur als die endgültige Form und Norm der menschlichen Existenz“.

Dies war ja auch die Position des US-Politologen Francis Fukuyama, der 1992 bereits „das Ende der Geschichte“ ausgerufen hatte, weil es nach dem Fall des Kommunismus künftig keine Alternative mehr zum westlichen Modell gebe. Ein voreiliges Urteil, wie wir heute wissen. Und Fareed Zakaria, einer der einflussreichsten Medienleute Amerikas, hatte 2008 geschrieben, die Welt gehe „den amerikanischen Weg“, und selbst der Aufstieg des „Rests“ sei eine „Konsequenz amerikanischer Ideen und Handlungen“. Bislang sei das 21. Jahrhundert ein scheußliches für das westliche Modell gewesen, bilanzieren zwei Redakteure des Wirtschaftsmagazins „Economist“ in einem neuen Buch mit dem Titel „The Fourth Revolution“. Mit drei Revolutionen binnen 500 Jahren habe der Westen die Staatsführung verändert – mit dem europäischen Nationalstaat, der Einführung individueller Rechte und eines verantwortlichen Regierungssystems sowie der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates. Doch nun werde der Westen durch aufgeblähte Budgets, funktionsgestörte Regierungen und eine zügellose Öffentlichkeit gelähmt; er falle hinter autokratische asiatische Staaten zurück. Nötig sei eine vierte Revolution, um den „Geist der Demokratie“ zu beleben. Dies sei die beste Garantie für Innovationen und Problemlösungen.

Fortschritt nur entlang westlicher Kriterien zu definieren sei Absolutismus, heißt es hingegen bei Pankaj Mishra. Er zitiert den britischen Historiker Christopher Bayly, der meint, die europäische und amerikanische Dominanz über die „Wirtschaften und Völker der Welt“ habe einen großen Teil der Menschheit „in Langzeit-Verlierer beim Rennen um Ressourcen und Würde“ verwandelt. Und nun sei der Zauberbann universellen Fortschritts durch westliche Ideologien – Sozialismus und Kapitalismus – gebrochen.

Die Kritik am Westen mag weitgehend berechtigt sein. Doch wo ist die Alternative zum westlichen Modell? China mit seinem despotischen Einparteiensystem und seiner massiven Umweltzerstörung? Indien mit seinen krassen sozialen Unterschieden und Vergewaltigungswellen? Russland mit seiner autoritären Herrschaft und Putins nahezu faschistoider Ideologie einer überlegenen russischen Kultur? Oder gar der Islamismus mit seiner Intoleranz? Dass der Westen in der Krise steckt, ist nicht erst seit der Finanzkrise offensichtlich. Das Problem ist nur, dass allen anderen Modellen die allerwichtigste Errungenschaft der westlichen Kultur fehlt, auf die auch Pankaj Mishra nicht den größten Wert zu legen scheint: die individuellen Menschenrechte.