1989 begann für uns im Westen die Entdeckung der anderen Deutschen. Die Einheit wurde zum Experiment mit ungewissem Ausgang

Vor 25 Jahren, in der letzten Oktoberwoche 1989, bekam meine Mutter seit Langem mal wieder Post von ihrer einzigen Cousine in Ostberlin. „Wisst ihr, was hier los ist?“, schrieb Lieselotte. Ja, wir sahen schließlich fern. 300.000 entrüstete Menschen protestierten am 23. Oktober in Leipzig, drei Tage später demonstrierten DDR-weit noch einmal 160.000. Doch das SED-Politbüro sperrte sich dagegen, etwas von seiner Macht abzugeben. Meine entfernte Tante, Jahrgang 1920, machte sich große Sorgen: „Alles gerät aus den Fugen.“ Zwei Wochen danach war die Mauer Geschichte, und am Sonntag nach dem 9.November standen wir in dem winzig kleinen Dorf Mustin im Kreis Herzogtum Lauenburg und hatten Tränen in den Augen – wegen der endlosen Trabi-Schlange, die durch die alte Allee von Osten heranholperte, und wegen der Abgase des Zweitaktergemischs.

Für mich war die DDR – nach einem einzigen Kurzbesuch 1981 – ein fremdes Land. Wir Nachkriegskinder waren in ganz Westeuropa herumgetrampt, in die USA geflogen und sogar nach Asien gereist, aber 50 Kilometer östlich von Hamburg begann irgendwas total Unbekanntes. Heute sagen viele Westdeutsche, die ersten Jahre nach dem Mauerfall gehörten zur intensivsten und abenteuerlichsten Zeit ihres Lebens. Zu Erkundungsfahrten nahm ich immer Thermoskanne, Butterbrote und Reservekanister mit. Zwar ist meines Wissens keiner im Osten verhungert oder verdurstet, aber liegen geblieben schon – das Tankstellennetz Ost war eine Katastrophe. Telefonate in die Noch-DDR waren eine Geduldsprobe: Die meisten Behörden und Betriebe hatten zwar noch übersichtliche dreistellige Telefonnummern, bloß war das halbe Land immer gerade in der Pause.

Heute wird die Zeit des Zusammenwachsens gern ins Licht goldener Morgenröte getaucht. Der grüne Pfeil und das Sandmännchen wurden übernommen, die Spreewaldgurke und der „Polizeiruf“ im Fernsehen haben überlebt. Vielen DDR-Bürgern ging alles viel zu schnell. Sie kannten weder Horst Köhler (CDU, damals Leiter der Abteilung „Geld und Kredit“ im Finanzministerium) noch Thilo Sarrazin (SPD und Referatsleiter), die Ende 1989 in nur vier Tagen die Grundlagen der Währungsunion ausarbeiteten. Ihr Papier enthielt die Prognose, dass die Währungsumstellung „zu einer Freisetzung von 35 bis 40 Prozent der Industriebeschäftigten führen würde. Die sich daraus ergebende Arbeitslosigkeit in der DDR hatte ich auf 1,4 Millionen Menschen geschätzt“, sagte Sarrazin später im „manager magazin“. Er irrte: 1992 waren drei Millionen Ostdeutsche ohne Job. Zu den Kritikern des überstürzten Plans gehörte übrigens Oskar Lafontaine, damals SPD.

Die DDR-Betriebe, denen nach der Einführung der D-Mark die Kundschaft in Osteuropa wegbrach, konnten die Löhne nicht mehr zahlen. Deshalb hat die Währungsunion auch ihren Hauptzweck – nämlich den Stopp der Abwanderung nach Westen – nicht erreicht. 9000 DDR-Betriebe wurden von der Treuhand privatisiert, nur sechs Prozent waren unverkäuflich und wurden abgewickelt. Darunter das (funktionierende) Kalibergwerk in Bischofferode – sicher erinnern sich viele von Ihnen noch an die herzzerreißenden Szenen dort. Ich habe mich damals oft gefragt: Würden die jetzt noch die Einheit wollen? Millionen Ostdeutsche bezahlten sie mit gebrochenen Biografien.

Andererseits: Auch 189.000 Stasi-Schnüffler wurden arbeitslos. Und auch wenn die Linke es immer noch nicht wahrhaben will – die meisten von Planwirtschaft und Reformstau gebeutelten DDR-Betriebe hätten auf Dauer keine Chance gehabt. Man sollte sich in Erinnerung rufen, welche enormen wirtschaftlichen Probleme Länder wie Rumänien oder Bulgarien heute noch haben, um zu ermessen, wie schnell die „neuen Länder“ vergleichsweise wieder auf die Beine gekommen sind.

Meine Tante hat vor ein paar Monaten wieder einen langen Brief geschickt. „Ich hatte mir damals lange etwas vorgemacht, wollte nicht sehen, was in der DDR vorging“, schreibt die muntere 94-Jährige. „Aber wir hatten ja keine Zeit, Wiedervereinigung zu üben.“ Tja. Internet, Energiepolitik, Ebola-Bekämpfung – eigentlich versuchen wir ja alles reichlich ungeübt.

Irene Jung schreibt jeden Mittwoch über Aufregendes und Abgründiges im Alltag