Was für ein Stimmungsumschwung: vom Wirtschafts-Wunderland zum Krisenfall. Wie schlecht geht es uns wirklich?

Endlich! Der Untergang naht! Und den können wir Deutschen immer noch am besten. Bis vor wenigen Tagen schwelgte die Republik in Selbstzufriedenheit und Sektlaune. Fußball-Weltmeister, Konjunktur-Lokomotive, Wirtschafts-Wunderland. Dann trudelten ein paar Konjunkturdaten ein, die ein anderes Bild malten – und an der Börse und in den Online-Medien wurde aus voller Fahrt der Rückwärtsgang eingelegt. Die „FAZ“ sieht „Deutschland vor der Rezession“, die „Welt“ warnt „Die wirtschaftsfeindliche Politik macht alles schlimmer“, die „Süddeutsche“ barmt: „Das German Wunder ist zu Ende“. Ein paar Zeilen weiter raubt sie dem Leser alle Hoffnung. „Namhafte Wissenschaftler sagen voraus, dass durch den rasenden Fortschritt in der Informationstechnik beinahe alle Arbeitsplätze der Mittelschicht durch intelligentere Roboter oder neue digitalisierte Prozesse wegfallen werden.“ Der Letzte macht das Licht aus.

Was ist passiert? Die Krisen der Welt sind in den Köpfen und Auftragsbüchern angekommen. Der Sachverständigenrat hat seine Wachstumserwartungen von 1,9 auf 1,3 Prozent zurückgenommen. Wohlgemerkt das Wachstum. Die schlimmen Konjunkturdaten zum Export, zu den Aufträgen und der Industrieproduktion bezogen sich auf den August. Ein Großteil des Minus lässt sich durch die späten Ferientermine im Sommer erklären. Und Krisen währen nicht ewig. Etwas weniger pubertäre Launenhaftigkeit bei der Bewertung der Lage würde schon helfen. So wenig, wie Deutschland vorher Wunderland war, ist es nun todkrank. So schnell stirbt ein Standort nicht.

Aber er strotzt auch nicht vor Gesundheit – schon lange nicht mehr. So haben die leicht hysterischen Reaktionen einen harten Kern. Und der muss viel mehr beängstigen als Augustdaten zur Industrieproduktion. In seinem lesenswerten Buch „Die Deutschland-Blase – Das letzte Hurra einer großen Wirtschaftsnation“ lässt der Wirtschaftsjournalist Olaf Gersemann die Luft aus der aufgeblasenen Selbstzufriedenheit. Zwar tappt auch er manchmal in die „Burundi-Falle“, die immer dann lauert, wenn man es dem Standort so richtig geben will und irgendein abseitiges Wirtschaftsranking den afrikanischen Zwergstaat vor Deutschland einsortiert. Etwas weniger Armageddon hätte es auch getan. Denn die Analyse ist bitter genug. Deutschland droht derzeit doppeltes Ungemach: Wir haben viel weniger richtig gemacht, als wir derzeit glauben. Die Erfolge der vergangenen Jahre sind vor allem dem Glück geschuldet: „Sechs Richtige mit Superzahl“ nennt Gersemann die Rahmenbedingungen der Vergangenheit: ein boomender Welthandel, der Aufstieg der Schwellenländer und die durch die Euro-Krise viel zu niedrigen Zinsen. Die Glückssträhne aber könnte nun enden, auch wenn in Berlin die Große Koalition regiert, als sei im Himmel Jahrmarkt.

In Zukunft drohen uns Verwerfungen durch die demografische Entwicklung, die IT-Revolution und vor allem durch einen Mangel an Investitionen. Gerade in den deutschen Kernbranchen, dem Maschinenbau, der Chemie oder der Elektroindustrie, übertreffen die Abschreibungen die Neuanschaffungen. Nur in der Automobilindustrie liegen die Investitionen noch im positiven Bereich. Das Land lebt längst von seiner Substanz: An der maroden Infrastruktur hat man gesehen, dass man diesen Zustand zunächst gut übersehen kann, das Erwachen dann aber umso böser wird. Hinzu kommt in Deutschland eine Wachstumsskepsis, die Gersemann mit der Hauptfigur aus Günter Grass‘ „Blechtrommel“ beschreibt. Die Oskar-Matzerath-Nation stellt das Wachstum ein, weil sie nicht mehr wachsen will.

Das mag abwegig klingen, beschreibt aber das Land recht gut, in dem wir leben. Eine Zeitungsseite sagt manchmal mehr als 1000 Worte – insofern dürfen sich Bürger, Politiker und Richter die Abendblatt-Titelseite vom Dienstag an die Wand hängen: „,Hamburgs Sargnagel‘ – Warten auf Elbvertiefung alarmiert Wirtschaft“ und darüber ein Bild mit der Zeile „Der Wachtelkönig ist wieder da“. Eine zufällige Koinzidenz. Aber eine mit Symbolcharakter. Wie schrieb Abendblatt-Leser Christoph R. so treffend: „Wenn das nicht eine Wohlstandskafkaeske des 21. Jahrhunderts versinnbildlicht, weiß ich auch nicht.“

Die Party, sie geht zu Ende.

Matthias Iken beleuchtet in seiner Kolumne jeden Montag Hamburg und die Welt