Nicht Kohl, sondern Gauck fand die richtigen Worte

„Es ist ganz falsch, so zu tun, als wäre da plötzlich der Heilige Geist über die Plätze in Leipzig gekommen und hätte die Welt verändert“, hat Helmut Kohl in einem jener Gespräche mit dem Journalisten Heribert Schwan gesagt, die dieser jetzt ohne die Erlaubnis des Altkanzlers veröffentlichte. In Wahrheit hätte allein der Bankrott der Sowjetunion den Zusammenbruch der DDR und die Wiedervereinigung ermöglicht.

Die private Geringschätzung der Montagsdemonstranten durch den „Kanzler der Einheit“ ist verstörend, denn auch wenn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen innerhalb des Ostblocks ohne Zweifel entscheidend zum Sturz der SED-Herrschaft beigetragen haben, wäre dieser ohne das mutige Engagement Zehntausender Menschen in Leipzig und vielen anderen ostdeutschen Städten nicht möglich gewesen. „Wir vollbrachten etwas, was undenkbar schien: Wir zwangen das Regime zum Abdanken“, sagte Bundespräsident Joachim Gauck am gestrigen Donnerstag in seiner Leipziger „Rede zur Demokratie“. Er würdigte die 70.000 Menschen, die am 9. Oktober 1989 ihre Angst überwanden und trotz eines riesigen Aufgebots an bewaffneten Kräften nach den Friedensgebeten in sechs Leipziger Kirchen auf die Straßen gingen. „Zehntausende überwanden ihre Angst vor den Unterdrückern, weil ihre Sehnsucht nach Freiheit größer war als ihre Furcht“, sagte der Bundespräsident, der vor 25 Jahren Pfarrer in Rostock war und dort die Protestbewegung Neues Forum mitbegründet hatte.

Heute ist das Geschichte, selbst Menschen, die sich unter hohem persönlichen Risiko an der entscheidenden Oktober-Demonstration beteiligt hatten, fällt es schwer, sich die damalige Situation wieder zu vergegenwärtigen. Und auch kein noch so gut gemeintes Lichterfest, wie es heute in Leipzig gefeiert wurde, kann das Gefühl der Befreiung noch einmal aufkommen lassen, das die Menschen spürten, als die Nacht friedlich verlaufen war und so zu einer Sternstunde deutscher Geschichte wurde. Ein Grund zum Feiern ist das allemal, so sollten wir die Erinnerung daran wachhalten. Kohl liegt hier falsch, die richtigen Worte hat Gauck gefunden.