Die Türkei darf dem IS-Vormarsch nicht länger zusehen. Sonst wird sich dies bitter rächen

Die Tragödie der syrischen Kurdenstadt Kobane markiert eine Zäsur im Kampf der Völkergemeinschaft gegen den islamistischen Terror. Die relative Wirkungslosigkeit der von der US-Air-Force und ihren Alliierten geführten Luftangriffe gegen die vorrückenden Truppen des Islamischen Staates (IS) beruhen auf einer Fehleinschätzung bezüglich der Kapazitäten und auch der Taktik der Dschihadisten. Luftangriffe allein können keine Wende bringen. Denn es handelt sich nicht, wie zunächst analysiert, um eine Anti-Terror-Aktion.

Der IS verfügt über Panzer und schwere Artillerie, die die Terrormiliz aus den syrischen und irakischen Arsenalen erbeutet hat. Damit handelt es sich teilweise bereits um einen konventionellen Krieg. Der Islamische Staat bedient sich modernster Waffensysteme und zugleich weiterhin der brutalen Instrumente des asymmetrischen Guerillakrieges. Es ist eine tödliche Kombination; und der Westen hat mit dieser „hybriden Kriegsführung“ noch wenig Erfahrung. Er wird nun schnell lernen müssen.

Die verheerende sunnitenfeindliche Politik des früheren irakischen Regierungschefs Nuri al-Maliki – eines Schiiten, der im irakisch-iranischen Krieg aufseiten der schiitischen Iraner kämpfte – hat dem IS fähige Offiziere des ehemaligen Saddam-Regimes zugetrieben, darunter Generäle. Eine derart gut geführte, ausgebildete, ausgerüstete und steinreiche Streitmacht wie der Islamische Staat ist nicht durch Luftangriffe zu bezwingen.

Es gilt auch hier die uralte Regel, dass ein Krieg letztlich nur mit Bodentruppen zu gewinnen ist. Doch weder Amerikaner noch Briten dürften nach den traumatischen Erfahrungen im Irak zurzeit Anstalten machen, starke Kontingente in die Region zurückzuverlegen. Für US-Präsident Barack Obama wäre der Fall von Kobane eine schwere politische Niederlage; seine gesamte Mittelost-Strategie mit dem übereilten Abzug aus dem Irak liegt in Trümmern. Der einzige Staat, der aus dem Stand ein massives Militärpotenzial zu mobilisieren vermag, ist die Türkei, deren Panzer in Sichtweite der Frontlinie aufgefahren sind. Die Bilanz des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ist allerdings noch verheerender als die Obamas. Erdogan hatte die Türkei als regionale Ordnungsmacht etablieren wollen und ist damit gescheitert. Der neue Sultan hatte die sunnitischen Terrorgruppen zunächst grenzüberschreitend unterstützt, um seinem syrischen Erzfeind Baschar al-Assad, der als Alawit den Schiiten in Teheran nahesteht, zu schaden. Erdogan hat dabei ignoriert, dass ein dschihadistisches Kalifat als direkter Nachbar eine tödliche Bedrohung auch für die türkische Regierungskultur darstellt. Mindestens 1000 radikalisierte Türken kämpfen im IS – und stellen im Wortsinn lebende Zeitbomben für die Türkei dar. Zudem sieht es Erdogan nicht ungern, dass die sich heldenhaft schlagende kurdische YPG-Miliz, ein syrischer Ableger der verbotenen PKK, in Kobane ausblutet. Erdogan hat eine undurchsichtige Rolle in der Krise gespielt – die Türkei hat zwar in bewundernswerter Weise 1,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen, aber zugleich den IS geduldet.

Der Fall von Kobane würde eine Region schaffen, in der die Dschihadisten noch leichter als bislang Rekruten, Waffen und Öl über die syrisch-türkische Grenze schmuggeln können. Erdogans Zögern ist unerträglich angesichts der zu befürchtenden Massaker an den Menschen in Kobane – und zudem unklug: Die ohnehin mühsame türkisch-kurdische Aussöhnung würde einen schweren Rückschlag erleiden. Dabei hätte Erdogan es in der Hand, sich mit einem entschiedenen Bodeneinsatz sowohl die Kurden zu Dankbarkeit zu verpflichten wie auch die Nato und die arabischen Staaten. Eine falsche Prioritätensetzung hingegen dürfte sich außenpolitisch und ökonomisch noch bitter rächen.