Die Grünen schießen sich auf die Handelskammer ein, die Bürger in Ottensen auf die Ansiedlung eines Unternehmens

Was waren das für Zeiten: Bis vor wenigen Jahren galt Hamburgs Handelskammer den einen als heimliche Nebenregierung, den anderen als unheimlicher Nebensenat. Ihr Wort war nicht Gesetz, aber hatte Gewicht. Selbst Bürgermeister zitterten vor der Silvester-Ansprache des Präses bei der Versammlung des Ehrbaren Kaufmanns. Der hanseatische Kaufmannsstolz ist so massiv wie unübersehbar – das Gebäude steht wie ein Zwilling neben dem Rathaus und ist sogar direkt durch eine Verbindungstür von dort erreichbar.

In den vergangenen Jahren hat sich der Einfluss, begleitet von einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, relativiert. Alle Wirtschaftsverbände haben an Einfluss verloren, selbst im Innern der Kammer mischen sogenannte Rebellen das Plenum auf. Der Zeitgeist ist auf Krawall gebürstet und kommt gern alternativ daher.

In der vergangenen Woche hat ein Unternehmer nun sogar die Kammer verklagt. Ihr ungeheuerliches Vergehen: Sie hat gewagt, sich beim umstrittenen Rückkauf der Energienetze klar zu positionieren. In einer standortpolitischen Frage, die alle Firmen, ja alle Hamburger betrifft. Das Selbstverständnis der Handelskammer besteht seit 1665 darin, die Belange der Unternehmen in der Stadt zu vertreten – so steht es übrigens auch im Bundeskammergesetz. Dass es bei 166.000 Firmen unterschiedliche Ziele gibt, ist klar. Dass es am Ende eines Meinungsfindungsprozesses eine Position geben darf, ja geben sollte, aber auch.

Ausgerechnet der Handelskammer nun in der Netze-Frage mangelnde Neutralität vorzuwerfen, ist absurd. Die Entscheidung ist demokratisch legitimiert, die Erklärung „Energiewende ja – Netzrückkauf nein!“ wurde im Plenum der 66 gewählten Unternehmer verabschiedet. Das können übrigens nicht alle Interessengruppen beim Netze-Entscheid für sich behaupten: Der evangelische Kirchenkreis Hamburg-Ost hat seine Entscheidung für den Rückkauf recht einsam gefällt, einen Synodenbeschluss gab es nie. Die Kirche hat keiner verklagt.

Möglicherweise hat der juristische Schachzug gegen die Kammer eher das Ziel, eine unbequeme Stimme verstummen zu lassen. Oder es ist einfach Wahlkampf: Der Kläger ist, wie es der Zufall so will, nicht nur Unternehmer, sondern auch Eimsbüttler Grünen-Kreisvorsitzender. Handelskammer und Grüne sind sich spätestens seit dem Netze-Entscheid nicht mehr grün. Davon erzählt auch der Streit von Grünen-Fraktionschef Jens Kerstan und Industriechef Michael Westhagemann, übrigens Vizepräses der Handelskammer, um ein angebliches Zitat. In der Sache hat Kerstan zwar Recht, es ist aber eine Frage von Fingerspitzengefühl, damit mehrere Anwälte zu behelligen.

Doch auf Kosten der Kammer kann man offenbar Stimmen fangen. Wirtschaftsfeindlichkeit hat in Deutschland Hochkonjunktur – man kann es sich ja leisten. Das erfahren nun sogar Branchen, die einstmals als „kreative Klasse“ jedermanns Liebling und Retter in einem waren. Vor Kurzem war von CDU bis zu den Grünen Konsens: Statt altmodischer Branchen wie Industrie, Hafen oder Handel sollten Wissenschaftler, Künstler, Medienschaffende oder Architekten die Zukunft sein. Kaum ein Politiker schmückte sich damals nicht mit den Ideen des US-Soziologen Richard Florida.

Heute beschränkt sich Kreativität offenbar auf subventionierte Kunst. Das Werbeunternehmen WPP wird gerade zum Lieblingsgegner der „Querulanten- Klasse“. Sie stoßen sich an den Plänen, den Zeise-Parkplatz in Ottensen zu bebauen, um die 850 Mitarbeiter an einem Standort zu konzentrieren. Meckerbüddel sehen darin den Weltuntergang. Die schrille Bürgerinitiative hält WPP für einen „Sargnagel“ für Ottensen und verlangt an dieser Stelle sozialen Wohnungsbau – weil die 850 Werber das „ursprüngliche“ Ottensen zerstören und „die Bevölkerungsstruktur aus Studenten, Künstlern und Kreativen“ verändern. Eine drollige Sichtweise. Bevor die Künstler kamen, war Ottensen jahrzehntelang ein klassischer Arbeiterstadtteil. Jetzt gelten schon arbeitende Werber als verdächtig. Sogar die FDP findet, für die Ansiedlung solle man einen Kompromiss mit Wohnungsbau finden. So kann die vermeintliche Wirtschaftspartei ihre Wähler in Hamburg bald per Handschlag begrüßen.

Offenbar mag in diesem Land keiner mehr fragen, wer den Kuchen eigentlich backen soll, den alle so gern verteilen und essen.

Matthias Iken beleuchtet in seiner Kolumne jeden Montag Hamburg und die Welt