Der Direktor des Britischen Museums ruft die Briten dazu auf, die Bundesrepublik endlich mit anderen Augen zu betrachten

Der Brite Neil MacGregor ist eine der interessantesten Gestalten im europäischen Kulturbetrieb. Der 68-jährige Schotte aus Glasgow ist ein umfassend gebildeter Mann, der unter anderem in Oxford und Paris Deutsch und Französisch, Philosophie, Rechtswissenschaft sowie Kunstgeschichte und Architektur studierte. Sein Buch „Geschichte der Welt in 100 Objekten“, in Deutschland Wissensbuch des Jahres 2012, zählt zu den herausragenden kulturhistorischen Werken der vergangenen Jahre. 2013 dann erschien „Shakespeares ruhelose Welt“, in dem MacGregor ein reiches Tableau der nervösen und gewalttätigen Zeit des „Hamlet“-Dichters um 1600 aufblättert, ebenfalls anhand von Museumsstücken.

Vor allem aber ist Neil MacGregor, vormals Chef der National Gallery, seit 2002 Direktor einer der bedeutendsten kulturgeschichtlichen Sammlungen der Welt – des 1759 gegründeten British Museum in London mit seinen rund acht Millionen Objekten. Es ist notwendig, dies alles zu erwähnen, um deutlich zu machen, dass dieser prominente Brite anders als die meisten Politiker oder Wirtschaftskapitäne gewohnt und fähig ist, in größeren historischen Zusammenhängen zu denken. MacGregor hat nun etwas Unerhörtes getan, das ihm sofort einen umfassenden Artikel in der nicht übertrieben deutschfreundlichen Londoner Zeitung „The Daily Telegraph“ eintrug. Er hat die Briten aufgefordert, endlich ihre Obsession bezüglich des Zweiten Weltkrieges abzulegen und zu erkennen, dass die deutsche Geschichte mehr umfasst als die Nazizeit.

Es ist fast ein gesellschaftspolitischer Tabubruch und zugleich ein erfrischender und längst überfälliger Ruf zu einem Neuanfang. Das Bild des Deutschlands im Zweiten Weltkrieg, so sagt er, werde in Großbritannien unablässig in einer Weise bekräftigt, wie dies in keinem anderen europäischen Land der Fall sei – eingeschlossen jene Länder, die im Gegensatz zu Großbritannien besetzt gewesen waren und damit weit mehr Grund hätten, auf das „deutsche Böse“ fixiert zu sein. „Es gehört zu den tragischen Dingen des 20. Jahrhunderts, dass noch vor 100 Jahren jeder von uns (Briten) so viel über deutsche Kultur und Geschichte gewusst hätte“, klagt er. „Wir alle hätten Deutsch in der Schule oder Universität gelernt, wir würden erwarten, dass Leute Deutsch lesen können. Wir würden über Deutschland Bescheid wissen – und das alles hörte 1945 auf.“ Die Deutschen, sagt MacGregor, seien fassungslos über den britischen Wunsch, an der Vergangenheit festzuhalten, die Beziehungen dort einzufrieren, wo sie vor 70 Jahren waren. Dabei sei Deutschland erfüllt von einem wunderbaren pro-britischen Gefühl. Die Deutschen wünschten sich die Briten als echte Partner und Freunde, denn sie hätten nicht nur begriffen, dass Macht gefährlich sei, sondern auch, dass alleiniges politisches Handeln gefährlich sei. Und sie seien dann erschüttert, wenn sie nach Großbritannien kämen und mit Nazi-Grüßen empfangen würden.

Neil MacGregor sagte dies der „Radio Times“ im Vorfeld einer neuen Radioserie des BBC-Senders Radio 4 in Zusammenarbeit mit dem Britischen Museum. Unter dem Titel „Erinnerungen einer Nation“ werden die „Triumphe und Tragödien“ in 30 Episoden aus 600 Jahren deutscher Geschichte anhand von rund 70 Museumsobjekten entfaltet. Ziel sei es, das „neue“ Deutschland zu erläutern, das nach dem Fall der Mauer entstanden sei. „Dies ist ein neues Land – und ein neues Land braucht eine neue Geschichte“, sagt der Kunsthistoriker.

Es ist ein weiterer Vorstoß von Neil MacGregor, die deutsch-britischen Beziehungen auf eine neue Ebene zu stellen. Im Dezember 2013 bereits hatte er im Britischen Museum eine Ausstellung deutscher Künstler von Albrecht Dürer und Hans Holbein bis zu Georg Baselitz, A. R. Penck und Gerhard Richter eröffnet. Er sagte: „Ich denke, die meisten Leute (in Großbritannien) würden mir zustimmen, dass wir weniger über die deutsche Kultur wissen als über die italienische oder französische. Aber es ist eine der großen gestaltenden Kulturen Europas.“

Abendblatt-Chefautor Thomas Frankenfeld greift an dieser Stelle jeden Donnerstag ein aktuelles Thema auf