Der „Leitfaden für britische Soldaten 1944“ zeichnet ein Deutschland-Bild, das bis heute überdauert. Wie auch auf St. Pauli zu sehen ist

„Wenn Sie die Deutschen kennenlernen, denken Sie wahrscheinlich, dass sie uns sehr ähnlich sind. Sie sehen aus wie wir, nur dass es den drahtigen Typus seltener gibt, sondern eher große, fleischige, hellhaarige Männer und Frauen, besonders im Norden.“ Das kleine rote Büchlein, in dem diese Sätze stehen, hat es gerade auf Platz fünf der Sachbuch-Bestsellerliste geschafft: der „Leitfaden für britische Soldaten in Deutschland 1944“ (Instructions for British Servicemen in Germany, zweisprachig neu bei Kiepenheuer & Witsch). Vor 70 Jahren schrieben Experten des britischen Außenministeriums diese Handreichung für Landsleute, die in dem kurz vor der Kapitulation stehenden Hitlerdeutschland eingesetzt wurden. Auch die britischen Soldaten, die am 3. Mai 1945 kampflos das kriegszerstörte Hamburg einnahmen, trugen das Büchlein bei sich.

Zwar trafen die Briten an der Elbe überwiegend auf eine Bevölkerung, die das Kriegsende herbeisehnte und nach langer Handelstradition in Großbritannien eine vergleichbare, sogar verwandte Kulturnation sah. Umgekehrt war das nicht so. Der „Leitfaden“ sollte die Soldaten auf ein Land vorbereiten, dessen Bevölkerung sich von Hitler zu einer Diktatur umformen ließ und Europa mit einem furchtbaren Krieg und grausamer Gewalt überzogen hatte: „Nie zuvor ist Mord in einem so großen Ausmaß organisiert worden wie durch die deutsche Regierung und die deutsche Armee in diesem Krieg.“

Wie sollte man nun diesen Deutschen gegenübertreten, die so harmlos aussahen wie Briten? „Eine britische Besatzung wird nicht von Brutalität, aber auch nicht von Nachgiebigkeit oder Sentimentalität geprägt sein“, empfiehlt der Leitfaden. Die Soldaten sollten sich hüten vor Mitleidsgeschichten nach dem Motto Ich-wurde-da-hineingezogen-ohne-es-zu-wollen. Es sollte kein Fraternisieren geben, keine Differenzierung zwischen Nazis und Deutschen. Die Deutschen sollten gründlich umlernen.

Auch wenn ich beim Lesen manchmal schmunzeln muss (Typen wie „drahtig“ oder „fleischig“ waren mir bislang unbekannt): Man erahnt doch, welch weiter Weg es gewesen ist vom Kriegsende bis zum Miteinander im modernen Europa. Die Mehrheit der britischen Soldaten war bis zum Kriegseinsatz nie außerhalb ihres Heimatlandes gewesen. Deshalb erläutert ihnen der „Leitfaden“ auch Besonderheiten wie Sauerkraut und Rotkohl, deutsches Bier und Schnaps („Die billigeren Sorten verbrennen einem die Kehle“). Heute geben sich an Wochenenden ganze Horden britischer Partygäste bei Junggesell/inn/enabschieden auf St. Pauli mit „German beer“ und Härterem die Kante – britische Reiseagenturen bieten dafür extra „holiday packages“ nach Hamburg an. Und umgekehrt ist diese Bachelor-Kultur längst nach Deutschland geschwappt.

Der „Leitfaden für britische Soldaten“ spiegelt ein Deutschlandbild, das im angelsächsischen Raum teilweise bis heute überdauert: Die Deutschen gelten als überaus fleißig und tiefgründig, aber leider auch autoritätshörig, sodass man nie weiß, ob sie nicht Reste einer Weltmachtlaune hegen. Mit solchen Befürchtungen stellte sich Margaret Thatcher noch 1990 den Verhandlungen über eine deutsche Wiedervereinigung entgegen. In der Unterhaltungskultur waren Ressentiments längst spielerisch aufgeweicht. 1976 nannte die Punkband Ramones ihr Debütalbum „Blitzkrieg Bop“, 1979 zog The Clash mit „London Calling“ nach (der Identifikation des Senders BBC World im Zweiten Weltkrieg).

Das kleine rote Buch erläutert die Unterschiede des Rechts- statt Linksverkehrs und schärft den britischen Soldaten ein, mit Schnaps ebenso vorsichtig zu sein wie mit Telefonaten („Denken Sie daran, dass Telefonleitungen nie privat sind“). Da wirkt es fast absurd komisch, dass der britische Geheimdienst GCHQ 70 Jahre später umgekehrt E-Mails, Computer- und Mobilfunkdaten in großem Umfang in Deutschland abgreift. Während die Deutschen zu den treuesten Fans von William & Kate, englischen Rosensorten, Andrew Lloyd Webber, Sean Connery und Helen Mirren, den Rolling Stones und Harry Potter zählen. Bloß: Kann man ihnen trauen?