Bilden wir diese Zeitform mit „sein“ oder „haben“, sobald etwas schon vollendet ist, bevor die Gegenwart überhaupt begonnen hat?

Draußen regnet es. Trotzdem gehe ich spazieren. Vielleicht habe ich einen Schirm aufgespannt oder ein Cape übergeworfen, vielleicht liebe ich es auch, nass zu werden. Doch um das Wetter geht es hier gar nicht, sondern wieder einmal um die Grammatik. Wenn ich also durch den Regen laufe, geschehen zwei Vorgänge gleichzeitig: der Regen und mein Spaziergang. Der Regen und der Spaziergang befinden sich beide in der Gegenwart. Ich fasse somit zusammen: Es regnet, doch ich gehe spazieren.

Nun kann es aber sein, dass der Regen gerade aufgehört hat, wenn ich das Haus verlasse. Es ist draußen trocken. Der Regen hat seine Tätigkeit vollendet, er wird von der Gegenwart in die vollendete Gegenwart versetzt: Es hat geregnet, bevor ich meinen Spaziergang mache. Das Verb regnen wird in eine Vorzeitigkeit befördert, behält aber eine enge Bindung zur Gegenwart des Spazierengehens, sodass es nicht ganz in der Vergangenheit verschwindet. Diese Zeitform eines Verbs bezeichnet man als das Perfekt, als die vollendete Gegenwart oder die Vorgegenwart. Entsprechendes gilt für das Plusquamperfekt, die vollendete Vergangenheit, bei der bereits etwas abgeschlossen war, ehe wir unsere Tätigkeit in der Vergangenheit überhaupt in Angriff nehmen konnten: Es hatte geregnet, bevor ich spazieren ging.

Perfekt (und Plusquamperfekt) werden mit den Formen von haben und dem Partizip II gebildet: Es hat geregnet. Ich habe die Blume gepflückt, doch die Rose „hat“ verblüht. Nanu, hier stimmt etwas nicht! Natürlich ist die Rose verblüht! Dieses Beispiel bringt unsere haben-Regel ins Wanken. Offensichtlich kann das Perfekt sowohl mit haben als auch mit sein gebildet werden, aber nicht nach Lust und Laune, sondern nach festen syntaktischen und semantischen Voraussetzungen. Als Muttersprachler benutzen wir intuitiv die richtige Form, wer jedoch Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache lernt, wird verzweifeln. Er oder sie könnte im „Deutschen Universalwörterbuch“ oder im „Großen Wörterbuch der deutschen Sprache“ nachschlagen, die bei Verben hinter dem Stichwort angeben, ob die 3. Person im Perfekt ein hat oder ein ist benötigt, etwa bei wachsen im Sinne von „größer werden“: wachsen (starkes Verb, ist). Aha, wir sagen also: Fritzchen ist wieder um drei Zentimeter gewachsen. Anders bei lachen (schwaches Verb, hat): Er hat laut gelacht. Allerdings dürfte die Methode des Nachschlagens recht mühsam sein. Sie eignet sich jedenfalls nicht für eine flüssige Unterhaltung.

Dabei bleibt unerheblich, ob sich ein starkes oder ein schwaches Verb im Spiel befindet. Die Erklärung ist weitaus komplizierter. Als Erstes müssen wir untersuchen, ob es sich um ein transitives (zielendes) Verb handelt, also um ein Verb, das ein Akkusativobjekt fordert. Alle transitiven Verben bilden das Perfekt Aktiv mit haben: Otto hat das Auto gekauft. Das Gleiche gilt für reflexive (rückbezügliche) Verben: Der Trainer hat sich blamiert. Demnach werden intransitive (nicht zielende) Verben mit Dativ- oder Genitivobjekt stets mit sein gebildet? Leider nein! So einfach ist die Entscheidung nicht, wie folgende Beispiele mit hat zeigen: Er hat mir nicht geholfen. Der Bundespräsident hat der Opfer gedacht.

Die Lösung, ob ein intransitives Verb für sein Perfekt haben oder sein benötigt, liegt in der Semantik, in der Bedeutung des Wortes. Die sein-Form ist fällig, wenn die Verben eine Ortsveränderung oder einen Zustandswandel zum Ausdruck bringen. Alle Bewegungsverben beinhalten eine Veränderung des Ortes, zum Beispiel fahren, gehen, fliegen, verschwinden. Deshalb heißt es: Meine Mutter ist nach Hamburg gefahren. Die Schüler sind nach Hause gegangen. Ein Zustandswandel wird durch Verben wie wachsen, schrumpfen, erblassen, erröten ausgedrückt: Das Kind ist errötet. Sein Kontostand ist geschrumpft. Auch allgemeine Ereignisverben wie geschehen, eintreten, passieren, vorkommen bilden das Perfekt mit sein: Etwas Schlimmes ist passiert. Manche Verben benutzen beim Perfekt sowohl sein als auch haben, was dem Gesagten aber nur scheinbar widerspricht. Bei Sie ist über den See geschwommen tritt eine Ortsveränderung ein, während bei Er hat wie ein Anfänger getanzt die Tätigkeit an sich im Vordergrund steht.

Der Verfasser, 73, ist „Hamburgisch“-Autor und früherer Chef vom Dienst des Abendblatts. Seine Sprach-Kolumne erscheint dienstags