Der Bundespräsident ist beliebt. Doch die Kritik an seiner Amtsführung wächst. Dabei verkörpert er das, was die Deutschen brauchen

Was für ein Glück hat Deutschland mit seinem Bundespräsidenten! Nach Johannes Rau, Horst Köhler und Christian Wulff hatten nicht wenige Zeitgenossen in diesem Land geglaubt, das Gelände um das Schloss Bellevue sei ein Gebiet der Reduzierten.

Dann kam Joachim Gauck. Er gab den meisten Deutschen den Glauben an die Bedeutung dieses Amtes zurück – die Umfragen belegen es. Mehr sogar: Gauck verkörpert das oberste Staatsamt genauso, wie die Deutschen es sich vorstellen. Seit Theodor Heuss soll ihr Traumpräsident stets seinen Dienstsitzen ähneln: würdevoll, doch nicht pompös, von vornehmer Wohlhabenheit zeugend, aber keineswegs prunkvoll und großspurig.

Gaucks Auftreten versinnbildlicht diese Idee. Neben seinen Werten hat er sie zu seinem Orientierungsrahmen gemacht. Wie kaum ein zweiter Amtsinhaber auf der obersten Ebene dieses Staates ist der Bundespräsident von heiterer Selbstsicherheit. Aufgeblasenes zersetzt Gauck augenzwinkernd mithilfe seiner Intelligenz. Zudem kann Gauck reden! Mal gleicht sein Bariton einem wohlformulierten Sprechgesang – schön wie eine lange Reise. Mal spielt er öffentlich mit seinen Gedanken und beflügelt damit das Denken seiner Zuhörer.

Gauck ist ein Freigeist. Bei allem Selbstvertrauen gehört er intellektuell zu der Gattung der Suchenden, der Zarten und Scheuen. Für sie gehören die Ausgewogenheit, die kritische Reflexion, die Unterscheidungsfähigkeit genauso zum Denken und Handeln wie die Abscheu vor Vereinfachungen, vor Manichäismus und voreiliger Parteilichkeit. Keine ganz schlechten Eigenschaften für den obersten Repräsentanten des Staates, dessen Gewicht sich aus der Art seines Auftritts und dem Gehalt seiner Gedanken bemisst. Oder bejahend ausgedrückt: Ein Glücksfall in einer Zeit, in welcher die Deutschen die Politik immer mehr – fälschlicherweise – als ein Feld moralischer Zwerge und leicht korrumpierbarer Phrasendrechsler begreifen – und ihre lieb gewordene Welt aus den Fugen zu geraten scheint.

Standhaft und unbeirrbar ist Gauck nur, wenn es um das Ideal der Freiheit und der Westorientierung geht. Beide Größen sind ihm mehr als ein Leitstern. Sie stehen ihm nah, sind hochpolitisch – seine Mission. Die Kraft, mit der er sie zu füllen versucht, hat zwei Ursachen: eine äußere und eine innere. Gauck ist der Bundespräsident mit dem größten politischen Gewicht.

Er ist der einzige Präsident, der jemals von allen maßgeblichen Parteien – gleichsam in einer großen Großkoalition – gewählt wurde. Das Maß dieser Legitimität hat keiner seiner Vorgänger jemals besessen. Auch aus diesem Grund ist Gauck freimütiger als alle Präsidenten zuvor. Offen lobt er die Nato, wirbt ohne Umschweife dafür, dass sie „ihre Fähigkeiten trainiert“, und erklärt zu einer Zeit, als die Kanzlerin noch von einer „Sicherheitspartnerschaft“ mit Russland redete, die Olympischen Spiele in Sotschi zu boykottieren. Kurz, Joachim Gauck ist der politischste Bundespräsident, den das Land je besaß; womit wir bei der inneren Ursache wären.

Wer als Pfarrer in der DDR den Mut besaß, Unbequemes von sich zu geben, der wird die Freiheit und die Westorientierung zeitlebens nicht nur als Geschenk verstehen, sondern auch als Herausforderung, sie mit Leben zu füllen. Gauck hat begriffen, dass die Westbindung Deutschlands auch politisch bedeutet, nicht isoliert zu sein. Darüber hinaus weiß Gauck, dass der Bedarf der Deutschen an Weltgeschichte gedeckt ist. Deutlicher als andere spürt er jedoch, dass zum Gedeihen des westlichen Bündnisgefüges aus EU und Nato auch ein Mehr an Verantwortung gehört, das die Deutschen zu tragen haben. Politisch und militärisch.

Die klare Westlichkeit des Amerikafreundes und Ossis wirkt mitunter herausfordernd. Sie führt seit einiger Zeit dazu, dass man Gauck als Kriegshetzer attackiert oder ihn in niederträchtigen Porträts zu beschädigen sucht. Manche Beobachter werfen ihm sogar seine Herkunft vor. Gerade weil Gauck aus dem Osten komme, sei er heute ein so strammer Westler. Ist es so? Überkompensation ist ein mächtiger Ansporn; und wie der Stotterer Demosthenes Athens größter Redner wurde, so mag der Ossi Gauck der größte Wessi werden. Land und Leuten tut er gut.