Früher wusste jedes gestochene Bild eine Geschichte zu erzählen, heute sind es oft nur alberne Augenblickswünsche

Was man im Sommer immer so schön sehen kann, ist, wie viele Mitmenschen heutzutage tätowiert sind. Fast jeder sechste Deutsche soll es mittlerweile sein, haben Experten von Tattoo- und Piercing-Organisationen für den Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages errechnet.

Insgesamt etwa zwölf Millionen Deutsche also haben Drachen, Schmetterlinge oder Wikingerschwerter auf den Armen, Schwalben hinter den Ohren und Schlangen auf den Waden, viele schleppen sich auch noch mit den alten Arschgeweihen ab. Und es werden immer mehr.

Meine Großmutter hätte sich schon vor zehn Jahren gewundert, ob denn alle diese jungen Menschen im Gefängnis gesessen hätten. Zu ihrer Zeit war das Tattoo alles andere als erstrebenswert, sondern ein Erkennungsmerkmal von Seeleuten oder Knastbrüdern, von Menschen also, die unfreiwillig viel Zeit zur Hautgestaltung hatten: Was wehtut, schweißt zusammen wie ein Brandzeichen.

Heute ist die Körperverschönerung längst als sogenannter Makrotrend in alle Einkommensschichten und Berufsgruppen geschwappt. Tattoos signalisieren keine Exklusivität mehr, wenn sie auch von IT-Beratern, Diätköchinnen, Rechtsanwältinnen und Krankenpflegern zur Schau gestellt werden, von Journalisten ganz zu schweigen.

Eigentlich schade, aber was soll man machen. Die Populärkultur sucht sich ihre neuen Moden oft auf der Straße und kopiert sie, bis sie Mainstream sind. So war es schon mit der Jeans, und die Globalisierung hat das Ganze noch beschleunigt. Ohne das Musikfernsehen MTV hätten wir womöglich gar nicht mitgekriegt, wie viele Rockmusiker Tattoos tragen. „I got Elvis on my elbows ... I gut hulas on the back of my legs“, heißt es in einem Song von Van Halen. Aerosmith, Rammstein, Marilyn Manson, Korn, Blink 182 – tätowiert bis zur Halskrause. Rihanna, Amy Winehouse, Björk oder Lady Gaga – das Tattoo ist außerdem weiblich geworden.

In den 90ern war es noch etwas Besonderes, dass Nina Hagen auf der rechten Schulter einen Fernseher eintätowiert hat („Ich glotz TV“), kombiniert mit dem Namen ihres indischen Gurus. Oder der Strichcode im Nacken: Die kapitalismuskritische Idee, sich selbst auszuzeichnen wie Supermarktware, hatte zuerst der amerikanische Rocksänger Henry Rollins (dessen Nacken so breit wie sein Schädel ist und genug Platz bietet). Heute wirkt der zierliche Barcode im Nacken von Pink nur noch wie ein Popsymbölchen. Manchmal weiß man auch gar nicht: Ist das Tattoo überhaupt echt? Oder hat sich Bettina Wulff bloß ein Klebe-Tattoo für ihren Unterarm besorgt?

Ein alter Seemann konnte zu jedem seiner Tattoos eine Geschichte erzählen: Das Herz da, das war für Monika. Der Phoenix stammt aus Mexiko. Hier der Schriftzug war für Consuelo und das Grab mit Banderole für Muddi und Vaddi. Die Tattoos bebilderten sein Leben. Heute ist jeder gestochene Namenszug ein Risiko. Wer weiß denn, ob aus „Jason“ nicht schon einen Monat später „Jan“ oder „Robbie“ wird? Ein Initiationsritual ist das Tätowieren jedenfalls nicht mehr, abgesehen vielleicht von den Ureinwohnern Polynesiens. Es ist eine Dienstleistung, so wie eine Nasenverkleinerung oder Brustvergrößerung. Damit ändert sich aber sein Charakter. Weh tut es immer noch, aber wen schweißt es zusammen? Allenfalls die Träger ganz ausgefallener, großformatiger Kelten-, Maori- oder Japan-Tribals, die bilden wirklich einen Club der ganz harten Männer.

„Nur wenn es lang hält, ist es echt“, hieß es in einem Rocksong, bezogen auf die Liebe. Im Grunde gilt dasselbe für das Tattoo. Wenn ich mir mit zusammengebissenen Zähnen eine Tätowierung stechen lasse, bleibt sie für immer: ein Bekenntnis auf der Haut, mit dem ich irgendwann begraben werde. Kein Wunder, dass sich viele Tätowierer den Mund fusselig reden, um ihren Kunden deren manchmal alberne Augenblickswünsche auszureden. Im Moment ist so ein Tattoo vielleicht ein Merkmal des Jugendkults. Aber wenn wir später mal mit 80 an unseren Gehwagen zur Seniorenpolonaise rollen, wirken „Alpha Girl“ oder „Harry Potter Forever“ doch irgendwie aufgesetzt.

Irene Jung schreibt jeden Mittwoch über Aufregendes und Abgründiges im Alltag