Vor Gabriel sind schon andere Politiker am Projekt Steuergerechtigkeit gescheitert

Als Steuersenkungspartei ist die SPD bisher nicht aufgefallen. Leitmotiv sozialdemokratischer Politik ist seit jeher vielmehr die Umverteilung möglichst stets wachsender Staatseinnahmen zugunsten tatsächlich oder angeblich Schwacher in der Gesellschaft. Die Forderung nach der Abschaffung der sogenannten kalten Progression, also jenes Phänomens, bei dem ein Arbeitnehmer nach einer Gehaltserhöhung mehr Steuern zahlen muss, eine über der Erhöhung liegende Inflationsrate aber gleichzeitig einen Teil des Lohnanstiegs entwertet, kommt aus dem Mund des SPD-Vorsitzenden einigermaßen überraschend. Zumal sich Befürworter in der Union und bei den Liberalen in den vergangenen Legislaturperioden bereits vergeblich darum bemüht haben.

Dass Sigmar Gabriel sein Herz für die Leistungsträger der Nation entdeckt hat, hängt sicherlich auch damit zusammen, dass er seine Partei wieder aus dem 20-Prozent-Gefängnis befreien will. Unter Angela Merkel ist die Union merklich nach links gedriftet, hat den Sozialdemokraten ein Thema nach dem anderen streitig gemacht. Und das höchst erfolgreich. In der Neuauflage der Großen Koalition steckt für die Sozialdemokraten wie schon in der Legislaturperiode 2005 bis 2009 die Gefahr, dass sich der größere Partner CDU/CSU die Erfolge an die Brust heftet und die SPD lediglich als Erfüllungsgehilfe und am Ende mit leeren Händen dasteht. Will er wirklich eines Tages Kanzler werden, muss Sigmar Gabriel also neue Wählerschichten erschließen und alte zurückgewinnen. Die größten Potenziale liegen da in Deutschland bekanntlich in der Mitte.

Die ist vom deutschen Steuerrecht seit jeher gebeutelt. Wer mehr als das Grundeinkommen verdient und nicht über die Gestaltungsmöglichkeiten von Selbstständigen und Großverdienern verfügt, ist dem Zugriff des Fiskus ohne Gnade ausgeliefert. Die Versprechen, den deutschen Steuerdschungel zu roden und zu einem einfacheren, niedrigeren und gerechteren System zu kommen, sind mittlerweile sang- und klanglos in den Schubladen der Finanzbürokratie verschwunden. Das Höchste, zu dem sich die derzeitigen Koalitionäre in ihrem Vertrag durchringen konnten, war das Versprechen, keine Steuern zu erhöhen. Und selbst das ist de facto schon gebrochen: Um ihre Renten-, Gesundheits- und Pflegeversicherungspläne bezahlen zu können, plündern die Regierungspartner die Reserven der Sozialkassen. Beitragserhöhungen sind absehbar. Auch das ist Geld von Steuerzahlern, es heißt in diesem Fall nur Beitrag – aber weg ist bekanntlich weg.

Dank sprudelnder Einnahmen wären Entlastungen im gabrielschen Sinne für einen großen Teil der arbeitenden Bevölkerung aber durchaus denkbar. Der Staat müsste dann allerdings nicht nur stets nach neuen Einnahmequellen suchen, sondern auch seine Ausgabenpolitik gründlich überprüfen, derzeitige und künftige Wahlgeschenke inklusive. Wahrscheinlich wird aber eher der Yeti auf der Mönckebergstraße entdeckt.

Und das ist der Haken der Operation „Kalte Progression“ für Gabriel. Wird er wie alle anderen vor ihm mit seinem Vorstoß von der Kanzlerin kalt abserviert, steht er als Verlierer da. Und dem laufen bekanntlich nicht unbedingt neue Wählermassen zu. Als Machtoption bliebe dann nur noch ein rot-rot-grünes Bündnis im Bund. 25 Jahre nach dem Mauerfall und nach den Erfahrungen in mehreren Bundesländern mag diese Variante für immer mehr Bürger und Sozialdemokraten ihren Schrecken verloren haben. Aber eben nicht für alle. Die SPD geriete in eine Zerreißprobe, und viele Wähler vor allem im Osten dürften in der Linken dann das Original und in der SPD eher die opportunistische Machtpartei sehen – und sich entsprechend entscheiden. Das aber ist schon wieder eine andere Geschichte.