Stringtangas sind de facto verboten, und jetzt soll auch Schluss sein mit High Heels: Moskau macht mobil gegen die Freiheit der Frauen

Muss man sich um Russland Sorgen machen? Das kommt darauf an, was man unter „Russland“ versteht. Das Verhältnis des Westens zur russischen Politikführung jedenfalls ist nach dem Flugzeugdrama in der Ostukraine so schlecht wie nie seit dem Ende der Sowjetunion. Aber die Russen sorgen sich ja selbst, wohin ihr Land driftet. Nicht nur wegen Wladimir Putin, sondern auch wegen ihres buntscheckigen Parteiengefüges mit eigenartigen Ideen, was gut für das Volk sei.

Dass einem Abgeordneten der nationalistischen LDPR-Partei beispielsweise der Apoll auf den 100-Rubel-Scheinen ein Dorn im Auge ist, könnte man noch als Witz verbuchen: Der Mann sieht hier einen Verstoß gegen das Verbot pornografischer Schriften und Abbildungen, obwohl das Geschlechtsteil des griechischen Gottes selbst unter einer Lupe nur ganz, ganz winzig ist. Dem Vorbild, der Apoll-Statue auf dem Vordach des Moskauer Bolschoi-Theaters, hatte man schon vor einigen Jahren ein Feigenblatt verpasst. Ginge es nach der LDPR, würden nicht nur das „Manneken Pis“ in Brüssel und die „Laokoon-Gruppe“ vor dem Vatikan mit Feigenblättern überpflastert, sondern eigentlich Skulpturenkunst in ganz Europa, bei uns etwa der „Jüngling mit Möwe“ an der Alster und der „Adam“ im Stadtpark.

Nein, eine ganze Reihe neuer Vorschriften zeigt, dass ausgerechnet Russland plötzlich prüde wird. Das Land der Oligarchen-Partys und Obermachos verbietet seit Anfang Juli Unterwäsche mit weniger als sechs Prozent Baumwolle. Begründung: der Schutz des weiblichen Intimbereichs – synthetische Fasern verursachten Hautirritationen.

Damit wird Reizwäsche, die hauptsächlich aus Kunstfaser besteht, quasi vom Markt gefegt. Bis zum 1. Juli musste sie aus sämtlichen Läden in Russland, Weißrussland und Kasachstan verschwinden; Handel, Produktion und Importe sind untersagt.

Russland ohne Stringtangas? Das widerspricht nun allem, was man über die lebenslustigen Russinnen und ihr Faible für Spitze und starkfarbige neckische Kreationen weiß. In so gut wie jedem Ferienhotel, das ich erlebt habe, waren die weiblichen russischen Gäste an den kleinsten (Synthetik-)Bikinis, den höchsten High Heels und dem meisten Botox (ist ja auch synthetisch) mühelos zu erkennen, ohne dass sich jemand um Hautirritationen geschert hätte.

Mit den High Heels soll aber auch Schluss sein: Abgeordnete der Partei Gerechtes Russland forderten Ende Juni von der Eurasischen Zollunion, Ober- und Untergrenzen für die Absätze an Schuhen festzulegen. Hohe Absätze schadeten der Gesundheit von Frauenfüßen, ebenso absatzlose Ballerinas und flache Turnschuhe (was bleibt eigentlich übrig?). Wenn die russischen Politiker so weitermachen, sind Sanktionen von außen bald überflüssig: Russlands Wirtschaft, vor allem im Chemie- und Textilbereich, schaufelt sich ihr Grab selber.

Man kann Pussy Riot allmählich verstehen: Mit der angeblichen gesundheitlichen Fürsorge wird vor allem Sittenpolitik betrieben – mit Hilfe strengerer Bekleidungsvorschriften für Frauen.

Russlands Konservativen ist Libertinage ein Dorn im Auge, wie man schon an der Empörung über den Eurovision Song Contest gesehen hat; die Enttabuisierung geht ihnen viel zu weit. Und nicht mal öffentlich schimpfen sollen die Russen darüber. Am 2. Juli verabschiedete das Parlament, die Duma, das „Gesetz zum Verbot nicht normativer Lexik“, das Schimpfwörter in Filmen und Medien verbieten will. Wie in den USA wird es Warnhinweise auf Plattenalben geben, obszöne Begriffe und Flüche in Filmen, Büchern und Blogs werden zensiert. In ausländischen Filmen werden sie in Russland schon lange mit Piiieps überblendet.

Das neue Gesetz trifft nicht nur die vielen Putin-kritischen Blogger, die kein Blatt vor den Mund nehmen. Es werde unmöglich, sozialkritische Milieuschilderungen angemessen auszudrücken, wozu Gossensprache nun einmal gehört, klagen Schriftsteller und Filmemacher. 23 Jahre nach der Perestroika also schon wieder Zensur – als würde Russland den neuen Freiheiten einfach nicht trauen.

Irene Jung schreibt jeden Mittwoch über Aufregendes und Abgründiges im Alltag