Bundesbank und Gewerkschaften schreiten Seit’ an Seit’ und werben um ein Ende der Bescheidenheit. Sie haben recht

Das darf man mal eine überraschende Nachricht nennen aus der Kategorie: „Mann beißt Hund“ oder „Priester predigt Lasterleben“ oder „HSV gewinnt Titel“. Im aktuellen „Spiegel“ plädiert Jens Ulbrich, Chefvolkswirt der Bundesbank, für einen ordentlichen Schluck aus der Pulle. Natürlich hat er das nicht ganz so direkt gesagt, denn Bundesbanker sind stets auch als Diplomaten unterwegs. Jens Ulbrich hat seine Anstiftung zum Ende der Bescheidenheit in diese Worte gefasst: „In der Summe ist die Lohnentwicklung in Deutschland vor dem Hintergrund der guten konjunkturellen Lage, der niedrigen Arbeitslosigkeit und der günstigen Perspektiven durchaus moderat.“ Die Gewerkschafter werden ihn auch so verstehen und für die nächsten Verhandlungen draufsatteln.

Und das dürfen sie auch.

Was sind sie in den vergangenen Jahren gescholten worden. Zur Jahrtausendwende, als jede Talkshow zu einer medialen Reformationsbewegung auswuchs und Politiker sich mit Rezepten und Radikalkuren für den kranken Mann Europa überboten, galten Gewerkschaften als vorgestrig: Alte Männer mit Parolen aus dem Holozän des Wirtschaftswunders, Sozialromantiker und Fortschrittsverweigerer, Reformverhinderer und Bedenkenträger. Der Zeitgeist trug damals neoliberal.

Damit lag er nicht falsch. Aber es wäre so unhistorisch wie unfair, die deutschen Gewerkschaften auf ihren Widerstand in Talkshows und Mai-Kundgebungen zu beschränken. In Wahrheit sind sie – das werden möglicherweise jetzt nicht alle hören wollen – ein Baumeister des zweiten Wirtschaftswunders ab 2005. Die Lohnzurückhaltung ist eine der Säulen, auf denen dieser Aufschwung ruhte. Die Bescheidenheit und der Pragmatismus, die die Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen des vergangenen Jahrzehnts an den Tag legten, hat die Arbeitgeber überrascht, einige Mitglieder verstört und dem Land genützt. Die Gewerkschaften haben die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Regierung nie geliebt, sie haben sie aber auch nicht verhindert. Wer in andere Länder blickt, bei denen Reformen rasch in Massendemonstrationen, Generalstreiks, ja Chaos enden, muss den deutschen Gewerkschaften dankbar sein: Sie haben akzeptiert, dass Politik eben doch vorrangig in den Parlamenten und nicht auf der Straße gemacht werden sollte.

An diese Vorgeschichte sollten sich die Arbeitgeber erinnern, wenn die nächsten Tarifverhandlungen anstehen. Es gibt Spielraum für deutliche Zuschläge, die sich dann endlich auch im Portemonnaie der Arbeiter und Angestellten auswirken. In den vergangenen 15 Jahren sind die Löhne von mehr als der Hälfte der deutschen Arbeitnehmer real sogar gesunken. Erst seit 2010 steigen sie insgesamt wieder an.

Und doch muss skeptisch stimmen, wenn Gewerkschaften und Notenbanker plötzlich Seit’ an Seit’ schreiten und auch die Bundesregierung nicht wagt zu hadern. Denn die ungewöhnliche Allianz schmiedet vor allem die Krise zusammen: Die Inflationsrate ist in Deutschland auf nur noch 0,5 Prozent gefallen und liegt damit näher an der Nulllinie als an der Zielmarke von zwei Prozent. Eine Deflation, also über längere Zeit fallende Preise, die eine ganze Volkswirtschaft in den Abgrund ziehen könnte, ist längst nicht mehr nur ein Hirngespinst von Untergangspropheten, die sich wichtig machen wollen. In einigen südeuropäischen Staaten ist sie längst Realität, in Nordeuropa darf sie es nicht werden. Denn aus den Kraftzentren des Euro-Raums müssen auch die Impulse für ein Erstarken der Währungsunion ausgehen. Sollte die Kaufkraft und der Konsum in der größten Volkswirtschaft Europas anziehen, würde dies zugleich die Wirtschaft der Krisenstaaten des viel geschmähten Club Med beleben.

Nur einer dürfte bei allem Verständnis für notwendige Strategien zur Lösung der Euro-Krise, der Verhinderung der Deflation und der Verbesserung der Kaufkraft Sorgenfalten bekommen. Hamburgs Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD) hatte versprochen, die städtischen Ausgaben von Jahr zu Jahr um höchstens ein Prozent steigen zu lassen. Hohe Tarifsteigerungen würden dieses ehrgeizige Ziel trotz Steuersegens rasch in unerreichbare Ferne verschieben, fließt doch knapp jeder dritte Euro aus dem Haushalt an das eigene Personal. Peter Tschentscher darf schon einmal den Rotstift spitzen.

Matthias Iken beleuchtet in seiner Kolumne jeden Montag Hamburg und die Welt