Der Abschuss der Boeing 777 könnte zum Wendepunkt der Ukraine-Krise werden. Der grausige Tod von fast 300 am Krieg unbeteiligten Menschen zeigt die übergreifende Dimension dieses Konflikts.

Jede politische Krise hat ihren Wendepunkt, nach dem sie entweder abflauen oder sich verschärfen kann. Die Tragödie von Flug MH17 könnte so ein Wendepunkt für die ukrainisch-russische Krise sein.

Im Verlauf dieses blutigen Konflikts sind bereits mehrere Militärflugzeuge und Hubschrauber von prorussischen Separatisten abgeschossen worden. Jeder dieser Vorfälle ist eine menschliche Tragödie, doch weil die Opfer Kombattanten waren, blieb der internationale Aufschrei aus.

Der Abschuss einer ausländischen Passagiermaschine, der zum grausigen Tod von fast 300 am Krieg unbeteiligten Menschen geführt hat, eröffnet plötzlich eine übergreifende Dimension dieses Konflikts. Zum einen in emotionaler Hinsicht – der Tod dieser Menschen führt weltweit vor Augen, was bislang gern verdrängt wurde: In der Ostukraine wird sinnlos auf entsetzliche Weise gestorben. Zum anderen kann sich die Reaktion der Staatengemeinschaft auf diesen terroristischen Akt nicht in der routinierten Bekundung von Abscheu und Entsetzen erschöpfen.

Mit letzter Sicherheit ist die Täterschaft derzeit nicht zu ermitteln. Es kann auch nicht überprüft werden, ob der vom ukrainischen Geheimdienst veröffentlichte Funkverkehr der Rebellen authentisch ist, doch vieles spricht dafür, dass die ostukrainischen Separatisten die malaysische Maschine mit einer Rakete des Systems Buk abgeschossen haben. Zunächst brüsteten sie sich mit dem Abschuss, dann verschwand diese Eintragung aus dem Internet. Die ukrainischen wie die russischen Streitkräfte nutzen die international übliche Freund-Feind-Kennung, die den Abschuss eigener Maschinen verhindern soll – die Separatisten nicht. Russland, das den Rebellen seit Monaten Waffen liefert, wird nun zunächst alles tun, um eine Mitverantwortung zu verschleiern. Dass aufgrund der chaotischen Kampflage am Boden 36 Stunden nichts geschah, dass die Rebellen inzwischen den Flugschreiber beschlagnahmt und vermutlich längst alle Raketenteile eingesammelt haben, lässt wenig Hoffnung auf ein erhellendes Ergebnis einer möglichen internationalen Untersuchung.

Es ist unwahrscheinlich, dass die Rebellen den Abschuss der Passagiermaschine absichtlich herbeigeführt haben. Anzunehmen ist vielmehr, dass sie glaubten, eine ukrainische Militärmaschine vom Typ AN-26 ins Visier genommen zu haben – die allerdings nur halb so groß ist wie die Boeing 777. Es ist schwer verständlich, warum die internationalen Fluggesellschaften erst dieses Drama benötigen, um Ausweichrouten um einen Kriegsschauplatz festzulegen, in dem immer wieder Flugzeuge abgeschossen werden.

Wladimir Putin gleicht nun Goethes Zauberlehrling, dem die Kontrolle über das von ihm Entfesselte entglitten ist. Als Lieferant von Waffen an die Rebellen haftet an ihm nun zusätzlich der Makel einer indirekten Mittäterschaft. Seine erste Reaktion, der Ukraine die Schuld zuzuschieben, da sie Krieg führe, ist an Zynismus kaum zu überbieten. Er selber hat mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim diesen Krieg ausgelöst.

Putin steht nun vor der Wahl, entweder seinen aggressiven Kurs fortzusetzen, um auch die Ostukraine de facto seinem großrussischen Reich zuzuführen. Dann wäre Flug MH17 der Wendepunkt zu einer Verschärfung des Konflikts. Denn weder Europäer noch Amerikaner können es sich politisch leisten, tatenlos zu bleiben. Oder Putin entschließt sich angesichts der internationalen Empörung zähneknirschend, die prorussische Soldateska wirksam zu zügeln. Dann könnte die Tragödie von Flug MH17 vielleicht zu einer Waffenruhe und damit zu einem vorläufigen Ende des Sterbens in der Ukraine führen.