Tokio rüstet seine Armee, die es eigentlich gar nicht geben darf, immer mehr auf – aus Angst vor dem großen Nachbarn China

Die blutigen Konflikte in der Ukraine, in Syrien und in Israel überlagern publizistisch manche anderen Krisen auf dem Globus. Und wo Raketen fliegen und Menschen sterben, bleibt oft wenig Aufmerksamkeit für politische Entwicklungen, die sich erst eines fernen Tages möglicherweise gefährlich zuspitzen könnten.

Einer der bemerkenswertesten Vorgänge in dieser Hinsicht spielt sich gegenwärtig in Japan ab. Dort hat das Kabinett von Premierminister Shinzo Abe nach einem monatelangen innenpolitischen Kampf für eine Neuinterpretation der pazifistischen Verfassung des Kaiserreiches gestimmt. Die weltpolitischen Folgen könnten erheblich sein. Der Kabinettsentscheid muss zwar noch vom Parlament abgesegnet werden; aber künftig soll es Japans Armee danach gestattet sein, verbündeten Staaten wie den USA oder Australien in einer militärischen Auseinandersetzung zu Hilfe zu kommen, wenn Japans Sicherheitsinteressen bedroht sind.

Hintergrund ist die massive Aufrüstung Chinas, die die Japaner sehr beunruhigt. Solange Japan noch wirtschaftlich weit überlegen war, nahm man den riesigen Nachbarn nicht wirklich als unmittelbare Bedrohung wahr. Doch nachdem China Japan als Wirtschaftsmacht überholt, ein gigantisches Aufrüstungsprogramm aufgelegt und einen Territorialstreit mit mehreren asiatischen Staaten über diverse Inselgruppen vom Zaun gebrochen hat, unter denen reiche Bodenschätze vermutet werden, wird in Japan die Frage diskutiert, wie auf diese Herausforderung zu reagieren sei. Zumal Nordkoreas bizarre und unberechenbare Kim-Despotie, die über Atomwaffen und mehr als eine Million Soldaten verfügt, regelmäßig mit dem Säbel rasselt. Vor drei Jahren hatte Tokio zum ersten Mal die strengen japanischen Waffenexportregeln gelockert und kann seitdem den Verbündeten auch militärische Hochtechnologie zur Verfügung stellen.

Das Problem für Japan ist, dass Artikel neun der 67 Jahre alten Verfassung, die nach der bitteren Erfahrung des Zweiten Weltkriegs mit dem atomaren Trauma von Hiroshima und Nagasaki geschrieben worden war, das Führen von Kriegen, ja selbst das Unterhalten von Land-, See- und Luftstreitkräften strikt verbietet. Allein die Existenz der japanischen Armee, die unter dem Etikett „Selbstverteidigungsstreitkräfte“ firmiert, ist eine äußerst weitgehende Dehnung dieses Artikels, die durch einen Verzicht auf Angriffswaffen wie strategische Bomber irgendwie gerechtfertigt werden soll. Mit 240.000 Mann ist Japans Truppe sogar um einiges größer als die Bundeswehr, die jetzt nur noch 183.000 Soldaten und Soldatinnen hat. Der japanische Wehretat stieg 2014 kräftig um drei Prozent auf umgerechnet 37 Milliarden Euro, gehört damit zu den höchsten der Welt und soll weiter anwachsen.

Premier Abe würde Artikel neun am liebsten ganz abschaffen, aber er hat im Parlament nicht die politischen Möglichkeiten, die Verfassung über eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern zu ändern. Also geht er das Problem über eine weitere „Neuinterpretation“ an. Nach Umfragen sind allerdings rund 70 Prozent der Japaner dagegen, den Artikel neun weiter auszuhöhlen. Als das Kabinett seine Entscheidung traf, gingen Zehntausende Japaner auf die Straßen, um dagegen zu protestieren. Die Angst ist groß, dass Japan in einen Krieg mit China hineingezogen werden oder dass sich der alte japanische Militarismus aus der Asche erheben könnte. Tatsächlich könnte ein militärischer Ernstfall rasch eintreten; etwa in einem Konflikt zwischen China und der von Peking beanspruchten Inselrepublik Taiwan.

Anders als die deutschen Streitkräfte hat Japans Armee seit 1945 nicht an Kampfhandlungen teilgenommen. In einem regionalen Umfeld, das zunehmend von Chinas auch militärisch unterfüttertem Dominanzanspruch charakterisiert ist, wird Japan aber kaum an seinem Pazifismus wie bisher festhalten können – zumal Peking in aggressiver Weise die Senkaku/Diaoyu-Inseln beansprucht, die 1971 von den USA an Japan zurückgegeben worden waren. Mit der schrittweisen Aushöhlung des japanischen Pazifismus, verbunden mit Aufrüstung, tritt der von China initiierte Machtkampf im Pazifik in eine neue, gefährliche Phase ein.

Abendblatt-Chefautor Thomas Frankenfeld greift an dieser Stelle jeden Donnerstag ein aktuelles Thema auf