Warum schreiben wir eigentlich vierzig, aber nicht „dreizig“? Es gibt Lautgesetze, die sind älter als die alten Germanen

Eine Wirtin mit Migrationshintergrund (ihr Name tut hier nichts zur Sache) betreibt in Hamburg ein Restaurant mit orientalischem Ambiente, und sie betreibt es so gut, dass sich ein deutscher Gast, der hervorragend gespeist hatte, einen Verzehrgutschein ausstellen ließ, um ihn zu verschenken. Die Wirtin, die sich sehr um die deutsche Sprache bemüht, schrieb: 30 Euro, „in Worten: dreizig“, also „dreizig“ mit z statt dreißig mit ß. „Solch ein Fehler ist der Frau wohl nicht anzukreiden, gibt es doch diverse Unregelmäßigkeiten in unserem Zahlensystem“, beklagte sich der Gast bei mir. „Haben Sie eine Erklärung für das Durcheinander, oder habe ich nur das System nicht erkannt?“

Eine Erklärung habe ich schon, möchte aber gleich anmerken, dass ich damit nicht die Verantwortung für die lange Entwicklung der deutschen Sprache übernehme – wie man Darwin auch nicht dafür verantwortlich machen kann, dass die Evolution so und nicht besser gelaufen ist (man verzeihe mir diesen etwas hoch gegriffenen Vergleich). Die deutsche Sprache ist kein Kunstprodukt wie das Esperanto, sondern hat sich über Jahrtausende aus dem Indogermanischen entwickelt. Dabei ging es weniger um den Struggle for Life (Überlebenskampf der Arten) wie bei Darwin, sondern um phonetisch und regional nachvollziehbare Lautgesetze. Den Grund, warum man dreißig mit ß schreibt, die anderen Zehner zwanzig, vierzig, fünfzig bis neunzig aber mit z, müssen wir in der 2. bzw. hochdeutschen Lautverschiebung suchen. Diese Lautverschiebung trennte zwischen dem 6. und 8. Jahrhundert n.Chr. im Süden unseres Sprachraums das Germanische vom (Alt-)Hochdeutschen. Die Zehnerzahlen werden durch das Anhängen des Suffixes -zig gebildet, welches aus einem alten germanischen Wort entstanden ist, das mit t- anlautete. Schriftliche Beispiele für das Germanische vor der 2. Lautverschiebung finden wir heute nur noch im Gotischen, und dort gibt es das Wort got. tigus in der Bedeutung „Dekade, Zehnzahl“. Also bildeten die alten Germanen beim Abzählen ihrer Sippe oder ihrer im Busch auf die Römer lauernden Krieger die Zehnerzahlen als Komposita aus Grundzahl als Erstglied und dem besagten t-Wort als Zweitglied.

Das anlautende t stand normalerweise hinter einem Konsonanten (zwan-, vier-, fünf- usw.) und wurde dann entsprechend den Lautgesetzen während der hochdeutschen Lautverschiebung zu einem Verschlusslaut mit folgendem Reibelaut([ts] = z) verschoben. Zwischen Vokalen trat dies jedoch nicht ein. Hier verschob sich das t zu einem Reibelaut, zu einem scharfen s ([s] = ß) – daher heißt es drei-ß-ig. Natürlich muss unsere Wirtin nicht erst die Proseminare der Germanistik besuchen, um die Zehnerzahlen richtig schreiben zu können. Sie und alle Normalverbraucher müssen sich nur Folgendes merken: nach einem Konsonanten immer -zig, nach einem Vokal immer -ßig. So wirr ist die Regel also gar nicht.

Nun stellt sich die Frage, warum wir nicht „dreissig“ schreiben. Nach der ss/ß-Regel der Rechtschreibreform steht ss nach kurzem Vokal (Fluss), ß aber nach langem Vokal (Fuß), und zwar, anders als früher, in jedem Kasus und Numerus. Vor 1998 wurde uns noch zugemutet, vom „Fluß“ in die „Flüsse“ zu springen. Ich habe allerdings etwas Entscheidendes ausgelassen: Auf einen Diphthong (Doppelvokal) folgt vielleicht ein s (eisig), aber nie ss, sondern dann stets ß (heiß). Halt! Bevor Sie nun Ihr Frühstücksbrötchen zur Seite schieben und zum Laptop greifen, rede ich besser gleich selbst von den Ausnahmen. Eigennamen werden natürlich weiterhin so geschrieben, wie der Standesbeamte sie in die Geburtsurkunde eingetragen hat. So buchstabiert sich unser erster Bundespräsident trotz Diphthongs Theodor Heuss mit ss und der Berliner Drucker Ernst Litfaß mit ß, was dazu geführt hat, dass die Litfaßsäulen mit Blick auf diesen Herrn nach wie vor mit ß geschrieben werden.

Übrigens endete die hochdeutsche Lautverschiebung in ihrer nördlichen Ausdehnung etwa an einer Linie zwischen Benrath und Berlin. Das Niederdeutsche, dem wir den vertrauten Eigennamen „Plattdeutsch“ gegeben haben, machte diese Lautverschiebung nicht mit. Deshalb blieb es im Norden im Hinblick auf unsere Beispiele beim t-: twintig, dörtig, veertig, föfftig – un nu mookt Se dat goot!