Der Wandel als Chance. Die Elbinsel ist ganz nach dem Geschmack der Gentrifizierungsgegner: arm, aber sexy

Über Hamburg wird ja gerne gemeckert, und auch ich finde an dieser Stelle immer wieder genug Haare in der Suppe. Der weltoffene Typ mosert, Berlin sei viel hipper, Hamburg habe vor allem Spießer-Chic. Der Hippster meckert, die Hansestadt sehe nicht nur alt aus, sie sei es auch. Und der kulturaffine Nörgler moniert, der Stadt mangele es an Aufbruch und Bewegung. Ihnen allen kann geholfen werden – sie sind reif für die Insel. Für Wilhelmsburg.

Wer daran zweifelt, dem sei eine Fahrradtour in den Süden empfohlen. So jung, so wild, so viel Aufbruch sucht man nördlich der Elbe vergebens. Schon am Alten Elbtunnel, dem unterirdischen Sprung über die Elbe, wird Hamburg schlagartig jünger. Zu den Stoßzeiten, vor oder nach Uni-Beginn, staut sich der Verkehr, sodass man einige Fahrstühle Geduld benötigt. Dafür wird man mit Hamburg pur belohnt – dem Alten Elbtunnel, der aus dem Fahrradsattel einen besonderen Charme entfaltet und an heißen Tagen wie ein Kühlschlauch wirkt. Ab Steinwerder ist die Stadt ganz bei sich selbst. In Rufweite zu St. Pauli verwandelt sich Hamburg in ein Hafen- und Industriegebiet, wo noch nicht aus jedem Quadratmeter das Maximum an Ertrag herausgepresst wird. Ständig ergeben sich neue Blicke auf die Stadt. Michel und Elbphilharmonie rücken bescheiden in den Hintergrund, am Horizont reckt sich die Köhlbrandbrücke in die Höhe, und immer neue Wasserlagen und Hafenbecken gilt es zu entdecken. Vor allem ist dieser Radweg ganz anders, als man sie aus Hamburgs Norden kennt. Hier ist die Stadt plötzlich wie Kopenhagen, eine Zweiradmetropole. Die Velo-Route ist breit, gut asphaltiert, bestens ausgeschildert. Radler sind hier kein Straßenbegleitbunt, sondern stehen im Mittelpunkt. Die Klütjenfelder Radwegbrücke ist speziell für sie gebaut. Hier kann schon der Weg das Ziel sein. Wobei das Ziel besonders lohnt: Wilhelmsburg ist jung, bunt, günstig, lebendig, migrantisch geprägt. Arm, aber sexy. Kurzum: so, wie Berlin sich schmückt.

Bei schönem Wetter findet das Leben draußen statt; an der Veringstraße, die noch vor Jahren eher zum Weglaufen war, mag man jetzt verharren: Kneipen stellen Tische heraus, Händler wagen sich mit neuen Konzepten in die Straße, plötzlich tobt hier das Leben. Wilhelmsburg ist so, wie Gentrifizierungsgegner es lieben – allerdings nicht in Wilhelmsburg, sondern in ihrem Stadtteil, vor ihrer Haustür.

Hier bekommt die gesamte Debatte um die Aufwertung von Stadtteilen, die seit Jahren grundsätzlich negativ gesehen und diskutiert wird, Schlagseite. Bei allem Verständnis für das Unbehagen, wenn Alteingesessene plötzlich Besserverdienern weichen müssen, gilt auch: Eine Stadt lebt nicht nur vom Wandel, sie benötigt ihn. Ottensen, als Szenestadtteil heute beliebt, galt vor über 40 Jahren als verlorener Stadtteil, Eimsbüttel war damals heruntergekommen. Der wundersame Aufstieg hat mit Gentrifizierung zu tun – sonst wären die heute schick sanierten Altbauten längst vergammelt und abgerissen worden, möglicherweise durch billige Wohnblocks ersetzt. Das vielfach kritisierte Geld der Gentrifizierer hat das gerettet, was die Gentrifizierungsgegner so lieben. Sogar eine gewisse Verdrängung kann sich am Ende für die Stadt positiv auswirken. Wenn die Karawane der Künstler, Studenten, Migranten weiterzieht und einen neuen Stadtteil entdeckt, bleibt eine Kommune im Wandel.

Viel hängt dabei von der Geschwindigkeit ab und der sozialen Ausgewogenheit. Kaum einer will, dass Rendite-Interessen zum entscheidenden Treiber der Stadtplanung werden. Genauso wenig aber darf man wollen, dass Stadtteile unter radikalen Bestandsschutz gestellt werden. Jeder Zuzug bedeutet Veränderung. Die Verweigerung der Veränderung ist strukturkonservativ.

Die Aufwertung von Wilhelmsburg hat sich die Stadt Hamburg – und damit der Steuerzahler – über Bauausstellung und Gartenschau viel Geld kosten lassen. Wilhelmsburg wandelt sich. In anderen Stadtteilen hingegen setzt die Politik alles daran, mit sozialen Erhaltungsverordnungen jeden Wandel zu verhindern, ja auszuschließen. Das Dumme daran: Der „verdrängte“ Student aus der Schanze könnte in Wilhelmsburg den Aufbruch mit gestalten – warum setzt die Politik so viel daran, ihn in der Schanze zu halten?

Matthias Iken beleuchtet in seiner Kolumne jeden Montag Hamburg und die Welt