Die EZB führt erstmals Strafzinsen ein. Aus der Krise kommt Europa damit nicht

Der 5. Juni 2014 ist ein historischer Tag für die europäische Geldpolitik. Erstmals in ihrer Geschichte verlangt die Europäische Zentralbank (EZB) einen Strafzins für Geld, welches bei ihr von Geschäftsbanken geparkt wird. Kritiker sprechen bereits vom Ende des Kapitalismus, weil man für geliehenes Kapital keinen Zins mehr bekommt, sondern sogar eine Strafe zahlen muss. Am Ende ist der Kapitalismus sicherlich nicht, allerdings befindet er sich in einem radikalen Wandel, wird immer unkalkulierbarer.

Risikolose und zugleich gewinnbringende Geldanlagen für Kleinsparer gibt es nicht mehr. Die Zinsen auf dem Sparbuch tendieren gegen null, von Lebensversicherungen als Altersvorsorge raten immer mehr Experten wegen zu geringer Renditen ab.

Und diejenigen, die sich wegen der niedrigen Hypothekenzinsen zum Kauf einer überteuerten Immobilie haben verleiten lassen, merken noch nicht einmal, dass sie zusammen mit vielen anderen Kreditnehmern auf einer Immobilienblase sitzen, die in wenigen Jahren zu platzen droht.

Der EZB ist ihre revolutionäre Zinspolitik kaum vorzuwerfen. Denn was sollen die Geldpolitiker in Frankfurt am Main machen, um die Wirtschaft – vor allem in Südeuropa – wieder in Fahrt zu bringen, um die Deflation dort im Keim zu ersticken?

Der Werkzeugkasten von EZB-Präsident Mario Draghi und seinen Experten ist spärlich gefüllt: Zinssenkungen und billiges Geld. Das war’s. Und beide Werkzeuge sind seit Jahren im Dauereinsatz. Leider nur mit mäßigem Erfolg. Der offizielle Bankrott einiger Euro-Staaten konnte auch dank der EZB verhindert werden.

Doch die vergangenen Jahre haben zugleich gezeigt, dass die Notenbanker mit ihrem Handeln an Grenzen stoßen. Lehrbuch-Inhalte, durch welche sich Millionen Volkswirte an Universitäten quälen mussten, haben sich als komplizierte Theorie entpuppt, die dem Praxistest nicht standhält.

Um ein Europa zu schaffen, das wirtschaftlich prosperiert, in dem Jugendarbeitslosigkeit zu einem Fremdwort wird, das Investitionen in Zukunftsbranchen lenkt und das gleichzeitig nicht unter einem Schuldengebirge zusammenbricht, bedarf es mehr als einer gut gemeinten Geldpolitik der EZB. Die einzelnen Staaten sind gefordert, dieses Europa, das seit vielen Jahren infolge der Schuldenkrise langsam, aber sicher zerbröselt, neu aufzubauen.

Dafür ist primär ein klares Bekenntnis zu einem solidarischen Staatenbund notwendig. Hier helfen die von Politikern und Medien geschürten Vorurteile vom „faulen Südeuropäer“, aber auch vom „arroganten Deutschen“ kaum weiter. Die europäische Idee kann – auch wirtschaftlich – nur funktionieren, wenn sie von den Menschen getragen wird. Das Ergebnis der Europawahl war diesbezüglich leider ernüchternd.

Eine herausragende Rolle für ein prosperierendes Europa spielen selbstverständlich die nationalen Regierungen. Denn ihre fiskalpolitischen Maßnahmen sind ökonomisch von viel größerer Bedeutung als Zinssenkungen. Investitionsprogramme, die das Wohlergehen des ganzen Kontinents und nicht nur einzelner Staaten im Blick haben, müssen deutlich ausgeweitet werden.

Ein Marshallplan für die Euro-Zone ist daher Pflicht. Investitionen in Bildung, Jobs für Jugendliche, moderne Verkehrswege, erneuerbare Energien und Zukunftstechnologien müssen her – und zwar in großem Stil und ohne Neiddebatten.

Die EZB hat ihre Möglichkeiten ausgeschöpft. Jetzt sind die Bürger Europas, allen voran ihre Regierungen, gefordert. Es geht nur vordergründig um Deflation, niedrige Sparzinsen und eine fragile Altersvorsorge. Letztlich geht es um Europas Zukunft.