Die Massenproteste nach der Minen-Katastrophe werden für Erdogan gefährlich

Die landesweiten Proteste in der Türkei im vergangenen Jahr waren der Ausdruck eines wachsenden zivilgesellschaftlichen Widerstands gegen die zunehmend autoritär und intolerant auftretende Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Symbol und Auslöser dieses Protestes war das Schicksal eines im Volk beliebten kleinen Parks in Istanbul, den Erdogan für den Bau eines monströsen Einkaufszentrums im Stil einer osmanischen Kaserne zerstören wollte. Doch im Vergleich zur Volkswut, die in diesen Tagen weite Teile der Türkei erfasst, war der Gezi-Park-Protest emotional geradezu blutleer. Der Abriss eines Parks ist allenfalls ärgerlich und politisch unklug; aber der jüngste Skandal trifft die Türken direkt ins Herz. Jetzt geht es um den Tod von mehr als 280 hart arbeitenden Menschen aus der Mitte des Volkes, um eine unfassbare Kaltschnäuzigkeit der Regierung, um deren offensichtliche Verachtung für Andersdenkende, möglicherweise auch um politische Korruption schwersten Ausmaßes. Das Grubenunglück von Soma und seine Begleitumstände könnte für Erdogan und seine islamistische Regierungspartei AKP zum politischen Desaster werden.

Im Oktober vergangenen Jahres hatte die Opposition in Ankara einen Untersuchungsausschuss gefordert, um die Umstände mehrerer schwerer Grubenunglücke in Soma mit Todesfolgen untersuchen zu lassen. Die AKP brachte den Antrag vor Kurzem im Parlament zu Fall; sie steht nun im Verdacht, möglicherweise die Interessen politisch verbandelter Minenbetreiber in den Vordergrund gestellt zu haben. Fast die Hälfte der mehr als 1150 tödlichen Arbeitsunfälle pro Jahr in der Türkei geschehen im Bergbau, auf dem Bau und im Metallgewerbe. Immer wieder sterben Kumpel durch veraltete Technik und mangelnde Sicherheitsvorkehrungen. Es ist bezeichnend, dass Erdogan in seinem zynischen Kommentar, dass „so etwas eben immer wieder passiert“, auf Grubenunglücke in England zwischen 1862 und 1894 verwies. Offenbar ist ihm nicht bewusst, dass er den Standard der türkischen Minen damit indirekt mit dem des 19. Jahrhunderts vergleicht. Den Protesten im vergangenen Jahr und denen jetzt liegt eine fundamentale Problematik des türkischen Regierungsstils zugrunde. Erdogan, der in früheren Jahren wegen radikal-islamistischer Äußerungen Berufsverbot erhielt, hat eine äußerst selektive Sicht der Demokratie, die sich für ihn im Wahlvorgang erschöpft. Danach hat das Volk sein Mitspracherecht verwirkt und sämtliche Maßnahmen der Politik in einer Art Duldungsstarre hinzunehmen. Es ist das Politikverständnis eines osmanischen Sultans. Daraus erklärt sich, dass Erdogan jede Kritik oder gar Proteste als illegitimen Angriff auf die unantastbare Autorität des Staates empfindet. So erklärt es sich auch, dass sein Berater Yusuf Yerkel brutale Tritte gegen einen von Polizisten zu Boden geworfenen Demonstranten mit den Worten rechtfertigen wollte, dieser habe schließlich den Ministerpräsidenten beleidigt. Yerkels Tritte treffen das ganze türkische Volk.

Erdogan ist so enorm erfolgreich geworden, weil er einst als Volkstribun gegen die Arroganz des jahrzehntelang etablierten Machtkartells aus Kemalisten, Armee und Geheimdienst angetreten war und die Wirtschaft vitalisiert hat. Noch immer kann sich der Premier auf die Unterstützung vieler konservativ-religiöser Parteigänger verlassen. Doch er hat den Kontakt zu großen Teilen des Volkes verloren, und es wächst die Einsicht, dass Erdogan den „tiefen Staat“ der Militärs durch ein islamisch-autoritäres Machtmodell ersetzt. Die Pressefreiheit in der Türkei darf als weitgehend aufgehoben gelten, ebenso die politische Unabhängigkeit der Judikative. In der gegenwärtigen Verfassung der Türkei ist eine EU-Mitgliedschaft ein absurder Gedanke.