Welcher Jugendliche lässt sich nach acht Stunden Unterricht noch für Klavierübungen oder den Schulchor motivieren?

Das G8-Gymnasium wird vonseiten der Musik praktisch einhellig abgelehnt. Alle musikpädagogischen Verbände, musikinteressierte Eltern und eindeutig alle Musikstudierenden, denen ich im Unterricht an der Musikhochschule begegne und die das G8 schon selbst erlebt haben, urteilen negativ. Dies Gymnasium behindert die musikinteressierten jungen Leute und beschädigt damit die Musik.

Drei oder gar vier Achtstundentage oder länger pro Woche, dann Hausaufgaben, Nachhilfe, Arztbesuch, Konfirmandenunterricht, Tanzstunde, Leistungssport, Jugendorganisation, alles, was Kinder und Jugendliche sonst noch tun oder tun sollten – dann heißt es immer noch nicht Freizeit oder Freunde treffen oder einfach mal träumen, denn dann sollen die musikinteressierten jungen Leute auch noch frisch und motiviert am Klavier sitzen und üben (sollten sie von der Sache her mehrere Tage in der Woche!) oder aufnahmebereit zum Geigenlehrer gehen? Das findet in der Regel nur noch bei den Schülern statt, deren Eltern kontinuierlich und konsequent darauf achten, sei es um den Preis, dass noch am Abend geübt wird. So verhalten sich aber nur die Eltern, die selbst seinerzeit von Eltern zur Musik geführt wurden, die wissen, wie wichtig und kostbar das ist. Dadurch spielt die Herkunft mehr denn je eine Rolle. Chancengerechtigkeit für mehr Jugendliche entsteht so nicht.

Was sind die Folgen? Die Klagen der Instrumentallehrkräfte hat man inzwischen vernommen. Schüler kommen müde und abgehetzt zum Unterricht, melden sich vom Unterricht ab. Zumindest üben sie weniger. Die Musiklehrer in den Schulen sprechen sogar vom „Ensemblesterben“, denn die Jugendlichen haben auch weniger Zeit und Kraft für die Schulchöre, Schulorchester und Schulbands. Die sind für die musikalische Bildung und Ausbildung aber wichtig, außerdem eine schöne Gelegenheit, andere, gleichgesinnte Jugendliche zu treffen. Das stärkt die Motivation, das Durchhaltevermögen, und Spaß macht es auch.

Mittlerweile zeichnen sich weitere Auswirkungen ab. Beim Wettbewerb Jugend musiziert, der bedeutendsten Nachwuchsförderung des Musikbereichs, ist das Problem auch angekommen. Die Zahl der Gymnasiasten, die zum Wettbewerb kommen, geht erschreckend zurück. Auch die Leistungen entwickeln sich dort kontinuierlich nach unten.

Inzwischen erreicht es die Musikhochschulen. Immer weniger junge Leute, die bei uns ihr Instrumentalspiel erlernt haben, schaffen die Aufnahmeprüfung. In einigen Ländern der Erde wird besser auf ein Musikstudium vorbereitet, und diese jungen Leute sind für unsere Professoren natürlich interessanter. Der Ausländeranteil unter den Musikstudierenden liegt mittlerweile bei 40 Prozent und mehr. Das ist nicht nur das Ergebnis der seit Längerem bedauerten Erosion des Musikunterrichts der Schulen, unabhängig von G8. Das G8-Gymnasium steigert das Problem noch ganz erheblich.

Nein, nein, es geht nicht nur um die kleine Gruppe der zukünftigen Professionellen. Kultur ist für alle gut. Auch die Amateurmusik ist als Basis der Musik und zur Bereicherung des Lebens unverzichtbar. Das Musikleben funktioniert nur, wenn Musik nicht nur gehört wird – allzu viele lassen sich inzwischen ja nur noch von Musik berieseln –, sondern wenn möglichst viele aktiv Musik machen, singen und ein Instrument spielen. Der Feierabendmusiker, selbst wenn er über die Anfangsgründe des Instrumentalspiels nicht sehr weit hinausgekommen ist, genießt auch Musik, findet mit Musik schnell zu anderen Menschen, geht eher ins Konzert.

Instrumental- und Gesangsunterricht können beim G8-Schüler an mehreren Tagen der Woche erst nach dem ganzen langen Schulalltag stattfinden. Selbst am Wochenende fehlt oft die Zeit, denn dann sind viele Schüler noch mit Hausaufgaben, Klausurvorbereitungen, Referaten oder Praktikumsberichten belastet. Es ist unabweisbar, für die musikinteressierten G8-Schüler ist die Hürde zu hoch.

Das G8-Gymnasium beschädigt die Musik. Das sollte einer Schulpolitik, die ganzheitliche Bildung anstrebt, also auch die Künste dabeihaben will, das sollte einem Land, das sich gern Musikland nennt, und einer Stadt, die Musikstadt sein möchte, Gedanken machen.