Ein Mythos aus dem Ersten Weltkrieg lebt in Großbritannien weiter. Doch auf Hilfe von oben darf im Ernstfall kein Soldat wirklich hoffen

Die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, dessen Ausbruch 1914 in die europäische Urkatastrophe führte, wird in Deutschland von den Schatten des Zweiten Weltkrieges überlagert. In anderen beteiligten Staaten, namentlich in Großbritannien, ist der „Große Krieg“ viel stärker präsent. Auf die chaotische Juli-Krise 1914 mit dem reihenweisen Versagen der Staatenlenker Europas folgten im August die ersten Kampfhandlungen, die schließlich in einen grauenhaften Stellungskrieg mündeten. In den Blutmühlen dieses apokalyptischen Szenarios verschwand nahezu eine ganze Generation junger Männer. Es ist kein Wunder, dass diese Gräuel Mythen und Legenden hervorbrachten. Die wohl kraftvollste dieser Legenden ist bis heute lebendig – die Geschichte der „Engel von Mons“.

Im September 1914 veröffentlichte die Londoner Zeitung „The Evening News“ eine Kurzgeschichte mit dem Titel „The Bowmen“ – die Bogenschützen. Sie stammte von dem Waliser Autor Arthur Machen (1863–1947), der vermutlich auch die Idee zu Daphne du Mauriers Erzählung „Die Vögel“ lieferte, die 1963 von Alfred Hitchcock verfilmt wurde. „The Bowmen“ ist im Stil eines Augenzeugenberichts geschrieben und beschreibt die Schlacht von Mons am 23. und 24. August 1914. Nahe der belgischen Stadt traf die britische Expeditionsarmee in einer Stärke von knapp 80.000 Mann auf die 1. Armee der Deutschen, die nach Verstärkungen rund 110.000 Soldaten zählte. Die Briten erlitten in Mons und Le Cateau schwere Niederlagen, entgingen aber der Vernichtung durch einen geschickten Rückzug. Beide Seiten hatten Tausende Tote und Verwundete zu beklagen. Machens Geschichte spielt mitten im entsetzlichen Stahlgewitter, als sich eine britische Einheit angesichts der drückenden deutschen Überlegenheit auf den Tod gefasst macht. Einer der Soldaten murmelt unablässig die lateinischen Worte „Adsit Anglis Sanctus Georgius“ – der heilige Georg möge den Engländern jetzt helfen – vor sich hin. Plötzlich geht etwas wie ein Stromstoß durch seinen Körper, und dann sehen die fassungslosen Briten, wie sich eine lange Reihe von nebulösen Gestalten vor ihren Gräben materialisiert, von denen ein unheimliches Glühen ausgeht. Mit großen Bögen feuern sie Pfeilsalven auf die vorrückenden Deutschen, dass sich der Himmel verdunkelt. Abertausende Deutsche fallen, werden aber später ohne sichtbare Wunden gefunden. Die Geisterkrieger sind die gefallenen Bogenschützen der Schlacht von Azincourt (Agincourt) am 25. Oktober 1415, als eine Handvoll englische und walisische Langbogenschützen unter Heinrich V. die Elite der französischen Ritterschaft vernichteten. Sie retten nun zahllosen Engländern das Leben.

Die Geschichte der geisterhaften Helfer wurde noch in anderen Blättern abgedruckt und löste eine Fülle von wilden Gerüchten und Berichten von angeblichen Sichtungen der Geisterarmee aus. Manche Quellen sprachen nun von Engeln. Die öffentliche Debatte schwoll derart an, dass sich Machen veranlasst sah, zu erklären, das alles sei reine Erfindung gewesen, und ein kleiner „Schneeball an Gerüchten“ habe sich zu einer monströsen Lawine ausgewachsen. Doch inzwischen wurden jedwede Zweifel an den „Engel von Mons“ von vielen patriotischen Briten als Verrat betrachtet. In den 1931 veröffentlichten Memoiren von Brigadegeneral John Charteris ist zu lesen, dass die Legende bei den britischen Truppen im September 1914 wie ein Lauffeuer umging.

Im Jahre 2001, fast 90 Jahre nach der Schlacht von Mons, berichtete die „Sunday Times“, im Nachlass eines britischen Soldaten namens William Diodge seien ein Tagebuch sowie sensationelle Fotodokumente gefunden worden, die die „Engel von Mons“ vor den Gräben zeigten. Der britische Regisseur Tony Kaye und Hollywoodstar Marlon Brando hätten das Material für 350.000 Pfund erworben und planten einen Film. In der Zeitschrift „Variety“ und der „Los Angeles Times“ war zu lesen, das Material sei von dem Autor Danny Sullivan in einem Koffer in einem Antiquitätenladen am Agincourt Square im walisischen Monmouth gefunden worden. Erst als ein Reporter im Auftrag der BBC der Sache nachging, gab Sullivan zu, er habe sich die ganze Sache ausgedacht, um ein von ihm geschriebenes Buch zu promoten. Doch die Legende der „Engel von Mons“ lebt weiter.

Abendblatt-Chefautor Thomas Frankenfeld greift an dieser Stelle jeden Donnerstag ein aktuelles Thema auf