Die Bilder, die wir früher im Kopf hatten, sind jetzt im Speicher des Smartphones. Es sei denn, man hat gar keines – wie Uwe Seeler

Es gibt Szenen aus Interviews, die ich nicht vergesse, und der knallrote Kopf von Uwe Seeler gehört dazu. Das war vor einigen Wochen. Die Misere des Hamburger SV zeichnete sich in seinem heutigen Ausmaß bereits ab, es war Anfang Februar, Halbzeit im Pokalviertelfinale HSV gegen Bayern München, an dessen Ende es 0:5 stehen sollte. Und Uwe Seeler sprach über den HSV. Dass es so nicht weitergehen könne, dass es nun wirklich eine Ende haben müsse mit der Zerstörung dieses Vereins, und mitten in diese wundervolle, minutenlange Erregung eines rotgesichtigen Mannes – dudelte sein Handy. „Oh, Entschuldigung, ist das peinlich!“, sagte er nur und zog ein Gerät aus seiner Brusttasche, das entfernt an das erinnerte, was man vor Jahren einmal Handy genannt hatte – damals, als das Smartphone noch nicht erfunden war. Das dudelnde Gerät trug einen HSV-Aufkleber auf der Hülle. Panisch drückte Seeler auf irgendwelche Tasten. Mehmet Scholl und Reinhold Beckmann grinsten um die Wette.

Es gab mehrere Dinge, die mich an dieser Szene gerührt haben, und natürlich war es vor allem die Pein eines Mannes, der sich vor Millionen Zuschauern genierte, der sich kurzzeitig fühlte wie ein Depp – zumindest vermittelte er diesen Eindruck. Das ehrte ihn sehr. Ein jungdynamischer Clubmanager hätte wahrscheinlich keine Miene verzogen.

Es gibt eben nicht mehr viele Orte, an denen das Klingeln, überhaupt: die Nutzung eines Telefons in der Öffentlichkeit tabu ist. Der Gottesdienst gehört dazu, das Theater sicher auch, die Oper, klassische Konzerte. Es sind die letzten Orte der Stille, und noch existieren sie. Vorige Woche, bei der Premiere von Molières „Die Schule der Frauen“ im Schauspielhaus, schauten gegen Ende der Vorstellung allein vier Zuschauer um mich herum auf ihre Smartphones. Kontrollierten ihren Maileingang, beantworteten auch die eine oder andere. Nicht sehr ausführlich – aber trotzdem. Wenn irgendwo in meiner Nähe ein Display leuchtet, muss ich einfach hinschauen. Im Theater ist das nicht anders, selbst wenn auf der Bühne gerade getobt wird oder das Gegenteil davon. Und irgendwie ärgert es mich immer, wenn ich davon durch leuchtende Displays abgelenkt werde.

Neulich war der deutsche Reggae-Musiker Gentleman bei „Zimmer frei“ eingeladen, dieser sympathisch konservativen Unterhaltungsshow im WDR. Gentleman ist Jahrgang 1974. Als er als Jugendlicher auf Konzerte gegangen ist, gab es noch keine Smartphones, und da auch das Fotografieren verboten war, hatte man eigentlich kaum eine Erinnerung an das Erlebte – außer den eigenen Bildern im Kopf.

Darüber hat er lange mit der Moderatorin Christine Westermann gesprochen. Weil ihn das bewegt. Ein Moment sei eben nicht mehr ein Moment, sobald er hundertfach auf irgendwelchen Smartphones gespeichert sei. Sondern ein Dokument, ewig reproduzierbar und damit auch bei jedem Anschauen wieder neu zu bewerten.

In Popkonzerten ist das Nutzen von Smartphones nicht nur erlaubt, es gehört inzwischen zum Standard. Nur für die Künstler auf der Bühne fühle sich das manchmal komisch an, sagte Gentleman. Weil die Konzentration eben eine andere sei, die man aus dem Zuschauerraum spüre; weil das, was man von den Fans zurückbekomme, deutlich zerstreuter sei als früher.

Zerstreuung statt Fokussierung, vielleicht ist das die Formel, die vieles auf den Punkt bringt, was die digitale Revolution mit sich bringt. Ohne das bewerten zu wollen. Neulich hat ein mir unbekannter Mensch auf Twitter ein Gemälde gepostet, es heißt „Det Hirschsprungske Familiebillede“, der Norweger P.S. Kroyer hat es 1881 gemalt. Ein Ehepaar mit fünf Kindern ist darauf zu sehen, sie stehen und sitzen auf dem Balkon einer Villa – und niemand schaut den anderen an. Mutter und Tochter stricken, der Mann betrachtet einen Block mit Zeichnungen, einer der Söhne liest Zeitung, zwei andere blicken in die Ferne. „Manche Dinge ändern sich nie“, schrieb die Entdeckerin des Bildes dazu: „Wie sich die Mitglieder einer Familie vor der Erfindung des Smartphones gegenseitig ignorierten.“

Ich mag solche kleinen Entdeckungen sehr. Nur dass dasselbe Gemälde mit Smartphones in den Händen der Kinder leider sehr hässlich wäre.