Warum sich der HSV im Überlebenskampf jetzt an sein größtes Talent klammert. Künftig müssen die Hamburger mehr in den Nachwuchs investieren. Eine Kolumne.

Er ist 1,78 Meter groß und wiegt 69 Kilo. Nicht gerade ein Kerl wie ein Baum. Und doch lastet auf den Schultern dieses Mannes die Zukunft des HSV. Denn wer soll die zur Rettung der Bundesligazugehörigkeit nötigen Tore schießen, wenn nicht Hakan Calhanoglu? Wer bereitet Tore vor, wer schießt die besten Standards? Hakan Calhanoglu. Wer ist der größte Hoffnungsträger des HSV? Genau, Hakan Calhanoglu.

Dieser 20 Jahre junge Mittelfeldspieler ist der Strohhalm, an den sich die HSV-Fans in diesen schweren Zeiten klammern. Weil kaum ein anderer sich dieser Verantwortung stellt. Calhanoglu hat in dieser, seiner ersten Erstligasaison, bereits neun Tore erzielt und vier Vorlagen gegeben. Wenn einer für Erfolg in diesem lange Zeit erfolglosen HSV-Team steht, dann er.

Angeblich sollen zuletzt beim 2:1-Sieg des HSV gegen Leverkusen „Spione“ aus aller Welt im Volkspark auf der Tribüne gesessen haben, um Hakan Calhanoglu zu beobachten. Sie werden entzückt gewesen sein. Denn sie sahen, was HSV-Legende Horst Hrubesch bei seinem Kurzbesuch in Hamburg sagte: „Hakan hat eine überragende Schusstechnik, links und rechts, er ist ein kompletter Spieler, und er hat Charakter, das sieht man jetzt. Er ist auch noch ein bisschen unbekümmert, aber er tut alles für die Mannschaft.“

Am Tag nach seinem Tor gegen Leverkusen und nach dem HSV-Sieg sagte Calhanoglu ganz bescheiden: „Mein größter Wunsch ist nun, dass ich in der nächsten Saison beim HSV die Rückennummer 10 bekomme.“ Mehr nicht. Er blieb mit beiden Beinen auf der Erde, er träumte nicht von Real Madrid oder dem FC Barcelona, er träumte nur von der 10. Aus solchem Holz sind HSV-Retter geschnitzt. Das ist die Hoffnung.

Und wer zuletzt in der Arena war, der wird sich erinnern: Calhanoglu sprintete nach dem 1:0 über das halbe Spielfeld und sprang Trainer Mirko Slomka in die Arme: „Weil er vorher gesagt hatte, dass ich vorne Druck machen soll, dass ich heute vieles entscheiden kann, damit hat er mich aufgemuntert und mir sehr viel Selbstvertrauen gegeben – dafür wollte ich mich bedanken.“ Großartig, diese Einstellung.

Slomkas Ratschläge werden nun auch für Hannover gelten. Calhanoglu, der mitunter „Calle“ oder auch „Hacki“ gerufen wird, könnte wieder der entscheidende HSV-Mann sein. Dem HSV ist zu wünschen, dass er mit diesem jungen Vorbildprofi erstens die Klasse hält, und dass dieser Schuss-Künstler dem Club noch möglichst lange erhalten bleibt. Leider sind Zweifel angebracht. Denn der traditionell klamme HSV ist geradezu prädestiniert, bei einer hohen Ablösesumme umzufallen und damit seine leere Kasse aufzufüllen.

Thomas Doll lässt grüßen. Der Dribbelkünstler, der 1990 zum HSV kam und sofort zum Publikumsliebling avancierte, tanzte nur ein Jahr mit den Gegenspielern durch die Bundesliga, dann wechselte er zu Lazio Rom. 15 Millionen Mark Ablöse verhinderten damals die Zahlungsunfähigkeit des Dinos.

Nichts ist unmöglich. Auch im Fall Calhanoglu nicht. Für den Verein sollte es aber endlich einmal ein Ansporn sein, nach mehr „Calhanoglus“ Ausschau zu halten. Schalke macht es vor, HSV-Fans könnten neidisch werden, mit Leuten wie Kolasinac, 20, Ayhan, 19, Meyer, 18, Goretzka, 19, Draxler, 20, Max, 20, Avdijai, 17, und Leroy Sane, 18. Fast alles eigener Nachwuchs, diese Talente sorgen für Furore. Zur Nachahmung empfohlen.

Ganz gleich, ob der HSV die Klasse nun hält oder nicht: Es muss endlich mehr aus dem eigenen Nachwuchs kommen. Seit Jahrzehnten wird davon gesprochen und versprochen, es werden Leute verpflichtet, die sich darum kümmern sollen – und wieder entlassen. Damit muss nun endlich Schluss sein. Jetzt müssen Taten folgen.

Der HSV muss die besten Männer für seinen Talentschuppen finden und engagieren, mit vielleicht dem besten Mann an der Spitze: Horst Hrubesch. Spätestens mit dem Umbruch, der im Mai hoffentlich eingeleitet wird, müssen neue und professionellere Wege beschritten werden. Nur so hat der HSV überhaupt noch eine Zukunft. Es ist geradezu Pflicht für einen Verein, der kein Geld für gestandene Profis ausgeben kann – weil er kein Geld mehr hat. Umdenken und anpacken, das ist jetzt gefordert, und keine hohlen Sprüche mehr. Davon hatten wir wirklich genug.

Dieter Matz, Abendblatt-HSVExperte und Blog-Vater („Matz ab“), mit seiner aktuellen Freitags-Analyse

Die HSV-Kolumne „Matz ab“ finden Sie täglich im Internet unter www.abendblatt.de/matz-ab