Die Eskalation im Ukraine-Konflikt erzwingt eine Überprüfung der Nato-Strategie

Die gute Nachricht zuerst: Im Gegensatz zur Juli-Krise 1914, die in die europäische Urkatastrophe des Ersten Weltkrieges führte, ist in der beunruhigend schwelenden Krim-Krise keiner der direkt oder indirekt beteiligten Staaten an einem Waffengang interessiert oder auch nur bereit, ihn notfalls in Kauf zu nehmen.

Und doch ist diese Krise brandgefährlich; denn selbst friedliebende Akteure könnten durch unbedachte Äußerungen eine Eskalation bewirken. So ist es wenig hilfreich, wenn der tschechische Präsident Milos Zeman Russland mit einem möglichen Nato-Einsatz in der Ukraine droht. Ähnlich problematisch ist aber auch die Forderung des russischen Außenministers Sergej Lawrow an die Ukraine zur radikalen Abkehr vom Westen. Zum einen sollte es nicht Moskaus Entscheidung sein, welchen Kurs die Ukraine einschlägt, zum anderen läuft Lawrows Ansinnen auf die Schaffung eines prorussischen Satellitenstaates nach sowjetischem Vorbild hinaus.

Am bedrohlichsten jedoch ist das Verhalten radikaler Ukrainer; fanatischer Nationalisten ebenso wie prorussischer Separatisten. Tödliche Schießereien oder wie gestern das Ausrufen einer prorussischen „souveränen Volksrepublik“ in der ukrainischen Stadt Donezk sind geeignet, genau jene Instabilität hervorzurufen, die Russlands Präsidenten Wladimir Putin den Vorwand liefern könnten, zum „Schutz“ der dort lebenden ethnischen Russen zu intervenieren. Es ist aber nicht auszuschließen, dass auch Provokateure im Sold und Auftrag des Kreml vor Ort virulent sind.

Im Westen nun zu vernehmende Forderungen, als Reaktion die Ukraine bis an die Zähne zu bewaffnen, sind gefährlicher Unsinn, mit dem man Funken in der Nähe des Pulverfasses schlägt. Es geht in dieser Krise inzwischen um wesentlich mehr als das politische Schicksal der Ukraine. In der akuten Situation nützt es wenig, „rote Linien“ festzulegen oder mit Drohungen zu operieren, die nur in eine weitere Zuspitzung führen könnten. Russlands Kurs ist nicht hinnehmbar, doch die Lösung der Krise erfordert Augenmaß und einen langen Atem. Putin lässt sich daheim als Triumphator über den Westen feiern, tatsächlich jedoch hat er sich politisch gefährlich in die Enge manövriert. Wird zu schnell zu starker Druck auf ihn ausgeübt, kann er nur noch in eine Richtung agieren: aggressiv nach vorn.

Kurzfristig ist Diplomatie angesagt; zunächst müssen die Provokationen der pro- und antirussischen Kräfte in der Ukraine eingedämmt und der russische Aufmarsch an ihren Grenzen beendet werden. Der Schaden in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen ist allerdings jetzt schon derart immens, dass man in der Nato und bei der EU nicht umhinkommen wird, die europäische Sicherheitsstrategie grundlegend zu überprüfen.

Das betrifft auch Deutschland. Die nach 1990 entworfene Strategie, die Deutschland umgeben nur von Freunden sah, kann angesichts eines hochgerüsteten Regimes, das sein Territorium unter Bruch von Völkerrecht und internationaler Verträge mithilfe auch militärischer Mittel erweitert, nicht mehr uneingeschränkt gelten. Zumal keineswegs ausgeschlossen ist, dass Russland tatsächlich auch noch auf die Ostukraine Zugriff nimmt.

Als äußerst ungemütlich wird die Lage nun vor allem in Polen und den baltischen Staaten empfunden. Niemand plant einen massiven Nato-Aufmarsch an der Grenze zu Russland. Doch es gibt bei uns nicht wenige Menschen, die den verunsicherten Polen und Balten ein maßvolles Zeichen unserer auch militärischen Solidarität innerhalb der Atlantischen Allianz rundweg verweigern wollen. Wenn man bedenkt, dass unsere Nato-Alliierten 40 Jahre lang bereit waren, für unsere Freiheit ihren Kopf hinzuhalten, dann ist diese Verweigerungshaltung einfach nur schäbig zu nennen.