Brüssel versucht die EU-Freizügigkeit auch im Handwerk flächendeckend durchzusetzen. Das könnte zulasten der Qualität gehen

Die deutsche duale Berufsausbildung wird gerühmt. Die Auszubildenden lernen im Betrieb die Praxis und parallel in der Berufsschule die Theorie. In den reglementierten Handwerksberufen dürfen sie nur nach bestandener Gesellenprüfung angestellt werden. Und nur wer eine Meisterprüfung ablegt, darf sich auch selbstständig machen.

Ist die EU dabei, dieses Modell gezielt zu zerstören? In den EU-Verträgen steht das Recht auf Freizügigkeit: Danach dürfen EU-Bürger überall in der EU arbeiten oder sich selbstständig machen. Dieses Recht greift aber nur bei den nicht reglementierten Berufen. Für die reglementierten Berufe gelten nationale Zulassungsvorschriften: Wer in Deutschland als Maurer arbeiten will, muss in der Regel die deutsche Maurergesellenprüfung bestanden haben; wer eine Konditorei betreiben möchte, die deutsche Konditormeisterprüfung. Irische Maurer und tschechische Konditoren haben diese Abschlüsse meist nicht. Das Recht auf Freizügigkeit läuft so in vielen Berufen weitgehend leer.

Daran stört sich die EU-Kommission. Es ist ihre Aufgabe, in allen Bereichen einen EU-Binnenmarkt zu schaffen. So konnte sie in der Vergangenheit die Zahl der reglementierten Berufe deutlich verringern. Bei den Verbänden der weiterhin reglementierten Berufe beißt sie jedoch auf Granit.

Daher hat die Kommission sich eine neue Strategie ausgedacht und in der EU-Richtlinie „über die Anerkennung von Berufsqualifikationen“ untergebracht: Die Kommission darf für Berufe, die in mindestens einem Drittel der Mitgliedstaaten reglementiert sind, EU-einheitliche Ausbildungsordnungen aufstellen. Diese treten neben die nationalen Ausbildungsordnungen. Der Auszubildende kann zwischen der nationalen und der EU-Prüfung wählen. Wenn er die EU-Prüfung besteht, darf er EU-weit arbeiten und sich selbstständig machen. Zwar kann ein Mitgliedstaat der Kommission mitteilen, dass er die EU-Ausbildungsordnung nicht einführen will. Aber wenn er das tut, kann die Kommission entgegnen, dass das nicht mit dem EU-Recht vereinbar ist. Dann kann sie und wird sie auch, das hat sie schon angekündigt, die Angelegenheit vor den Europäischen Gerichtshof bringen. Der aber entscheidet im Zweifel prinzipiell zugunsten der EU. Er wird daher den Mitgliedstaat zwingen, das EU-System einzuführen.

Was ist von dieser Strategie zu halten? Einerseits: Die Kommission muss die EU-weiten Ausbildungs- und Prüfungsinhalte festlegen, indem sie die in den Mitgliedstaaten verlangten Kenntnisse und Fähigkeiten „kombiniert“. Was heißt das? Naheliegend ist, dass sie die hohen deutschen Anforderungen und geringere Anforderungen in anderen Ländern auf einem mittleren Niveau angleichen wird. Zumindest die weniger begabten Auszubildenden in Deutschland werden die dann leichtere EU-Prüfung wählen. Es droht also ein Qualitätsverlust.

Andererseits: Erstens sucht man bei vielen der in Deutschland reglementierten Berufe vergeblich nach einem vertretbaren Grund, Ausländern die Arbeit in Deutschland zu verbieten. Offenkundig will man nur lästige Konkurrenz aus dem Ausland fernhalten. Deutsche Urlauber kaufen in Frankreich bedenkenlos Brot. Warum darf dann ein Franzose ohne deutschen Meisterbrief keine Bäckerei in Deutschland eröffnen? Sind Steinbildhauer und Friseure ohne deutschen Meisterbrief wirklich ein Sicherheitsrisiko?

Zweitens werden in Deutschland wegen des Geburtenrückgangs schon jetzt Arbeitskräfte knapp, gerade auch im Handwerk. Daher liegt es im deutschen Interesse, die Arbeitsmärkte für Ausländer zu öffnen.

Drittens: Wenn jemand befürchtet, dass etwa ein Maler mit EU-Prüfung unzureichend ausgebildet ist, kann er einen deutschen Meisterbetrieb beauftragen, der nur Mitarbeiter mit deutscher Gesellenprüfung beschäftigt.

Qualität hat allerdings ihren Preis. Wenn geizige Auftraggeber nur auf einen möglichst niedrigen Preis schauen und nicht auf die Qualität, verdrängt irgendwann die EU-Einheitsausbildung die deutsche duale Ausbildung. Dann hat die EU ihr Ziel – Freizügigkeit im Handwerk – auf Kosten der Qualität erreicht.

Für derartige Überlegungen aber ist es zu spät: Das Gesetz ist jüngst in Kraft getreten.

Prof. Dr. Lüder Gerken ist Vorsitzender der Stiftung Ordnungspolitik und des Centrums für Europäische Politik in Freiburg im Breisgau